Süddeutsche Zeitung

USA:Video heizt Abtreibungsdebatte an

Gegner werfen US-Hilfsorganisation Geschäfte mit fetalem Gewebe vor.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Die Bilder sind verwackelt, das Ambiente ist eher scheußlich, und eine der beiden Damen hat Kopfweh. Ob in dieser Situation Rotwein sinnvoll ist? "Mindestens so viel Wasser trinken wie Wein, sonst werden die Kopfschmerzen noch schlimmer", rät Doktor Deborah Nucatola, die einzige der drei am Tisch sitzenden Personen, die in dem mehr als zweieinhalbstündigen Video zu erkennen ist - einem filmischen Dokument, das die Amerikaner derzeit erregt wie kein anderes und das schon den Präsidentschaftswahlkampf erreicht hat. Vom "Schock-Video" ist in der Boulevard-Presse die Rede.

Das "Schock-Video" zeigt Nucatola, eine führende Vertreterin der Organisation Planned Parenthood (PP), in einem wohl kalifornischen Restaurant. Ihre beiden Gesprächspartner, die Frau mit den angeblichen Kopfschmerzen und ein Mann, sind nicht zu sehen. Einer von beiden trägt eine Kamera mit sich, versteckt vielleicht in einer Halskette oder einer Brosche. Nach dem Small Talk zu Beginn kommen die beiden schnell zur Sache: Sie geben vor, Gewebe und Organe abgetriebener Föten kaufen zu wollen, und Nucatola gibt ohne jeden Argwohn Auskunft, wie, warum und in welchem Umfang PP solches Gewebe zur Verfügung stellen kann.

"Planned Parenthood" sieht in den Vorwürfen eine Kampagne der Republikaner

Damit ist die ohnehin emotional aufgeladene Abtreibungsdebatte in den USA um einen möglichen Skandal reicher - und der Vorwahlkampf um ein Thema. PP "verkauft Baby-Teile", wetterten führende republikanische Politiker unmittelbar nach Bekanntwerden des Videos, und gleich mehrere ihrer Präsidentschaftsanwärter schalteten sich in die Diskussion ein. "Das ist eine schockierende und schreckliche Mahnung, dass wir noch viel mehr tun müssen, um eine Kultur des Lebens in Amerika voranzubringen", erklärte der frühere Gouverneur von Florida, Jeb Bush.

Die ehemalige Hewlett-Packard-Chefin Carly Fiorina schimpfte, Planned Parenthood rede den betroffenen Frauen ein, etwas Gutes zu tun, und mache dann "Geschäfte mit dem Tod Ungeborener". Und der texanische Senator Ted Cruz, der sich ebenfalls um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner bewirbt, sagte, ein "moralisch bankrotter Betrieb" wie PP dürfe nicht länger Zuschüsse aus Steuergeldern erhalten. Sowohl das Repräsentantenhaus in Washington als auch die Gouverneure von Texas und Louisiana kündigten eine Untersuchung des Falls an. Auch die Bundespolizei FBI wurde eingeschaltet.

Aufgenommen wurde das Video von zwei Aktivisten der bisher weithin unbekannten Anti-Abtreibungsorganisation Zentrum für medizinischen Fortschritt - wenn die Datumsanzeige der Kamera stimmt, bereits im Juli 2014. Warum das Material erst jetzt im Internet auftaucht, blieb zunächst unklar. In einer schriftlichen Erklärung werfen die Abtreibungsgegner Planned Parenthood vor, Körperteile abgetriebener Föten ohne Zustimmung der betroffenen Frauen zu verkaufen. Die Organisation veranlasse sogenannte Teilgeburtsabtreibungen, "um intakte Körperteile anbieten zu können".

PP ist in den USA nicht irgendeine Organisation. Es gibt sie seit 99 Jahren, sie hat sich unter anderem einen Namen in der Schwangerschafts- und Sexualberatung, bei der Krebsvorsorge und der Familienplanung, bei Abtreibungen und der Suche nach Krankenversicherungen für Geringverdiener gemacht. Sie genießt gerade in Großstädten unter Frauen großen Respekt, wird von Prominenten wie der Schauspielerin Scarlett Johansson unterstützt und mit Mitteln der Bundesregierung in Washington gefördert. Sie betreibt in den USA insgesamt 700 Gesundheitszentren und Kliniken und gehört wie die deutsche Pro Familia der International Planned Parenthood Federation an.

PP selbst sieht in den "unerhörten und vollständig unwahren Vorwürfen" die Fortsetzung einer Kampagne, die die Republikaner seit Jahren gegen die Organisation fahren. "Frauen und Familien, die sich dazu entschließen, fetales Gewebe einer lebensrettenden wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen, sollten eine Ehrung erhalten und nicht angegriffen und erniedrigt werden", erklärte ein Sprecher der Organisation. Planned Parenthood lege bei dieser "wichtigen Arbeit" die "höchsten ethischen und rechtlichen Standards an" und handle nur in vollem Einvernehmen mit den betroffenen Frauen. Weder diese noch PP verdienten mit dem Verkauf des Gewebes Geld.

All das erklärt in dem Video auch schon Deborah Nucatola, die heimlich gefilmte Direktorin des medizinischen Dienstes der Organisation. Was ihr und Planned Parenthood in der hitzigen Diskussion nach Bekanntwerden des Videos jetzt allerdings besonders schadet, ist weniger das, was sie bei diesem Mittagessen im Restaurant sagt, sondern wie sie es sagt: So spricht sie in sehr geschäftsmäßigen und teils flapsigem Ton darüber, wie man den abgetriebenen Fötus zerstört, ohne besonders wertvolle und begehrte Körperteile wie Herz, Lunge und Leber zu beschädigen - immer in der Annahme, sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten. Allerdings verweist sie sehr wohl auch darauf, dass man sich in einer ethisch-moralischen Grauzone bewege. Man habe mithilfe der Gewebeproben aber die Chance, bei der Bekämpfung bisher unheilbarer Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson Fortschritte zu erzielen, die sonst nicht möglich wären.

Die Rotweingläser übrigens stehen am Ende immer noch auf dem Tisch - unangerührt.

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Quelle:
SZ vom 17.07.2015
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