Wann immer in diesen Tagen das Wort von einem neuen Kalten Krieg fällt, liegt die Erinnerung daran nahe, wie die Konfrontation zwischen Ost und West einst zu Ende ging. Wegmarken wie das Durchtrennen des Grenzzauns zwischen Ungarn und Österreich und natürlich der Fall der Mauer sind in Erinnerung geblieben. Ein ebenso bedeutsames Ereignis, fast zwei Jahre zuvor, ist dagegen beinahe in Vergessenheit geraten.
Vor einem Kaminfeuer im Weißen Haus unterschrieben der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 den sogenannten INF-Vertrag. INF steht für "Intermediate-Range Nuclear Forces", bodengestützte Waffensysteme kurzer und mittlerer Reichweite, von 500 bis 5500 Kilometer. Im Kriegsfall wären sie wohl vor allem auf deutschem Territorium zum Einsatz gekommen. Je kürzer die Raketen, desto toter die Deutschen, hieß deshalb jahrelang einer der Schlachtrufe der damals mächtigen Friedensbewegung.
Mit dem INF-Vertrag wurde erstmals eine ganze Waffenkategorie verboten. Innerhalb von nicht einmal drei Jahren wurden 2692 Raketen verschrottet, 1846 kamen aus der Sowjetunion. Bis heute gilt die Vereinbarung als entscheidender Eckpunkt der Rüstungskontrolle und atomaren Abrüstung. In keinem Land war die im Nato-Doppelbeschluss zunächst getroffene Entscheidung, solche Waffen zu stationieren, so umstritten wie in Deutschland - und kein Land profitierte von dem INF-Vertrag so sehr wie Deutschland. Es war die Friedensdividende, die mit dem Ende der Block-Konfrontation einherging.
Obama warnte vor einer neuen Spirale der Aufrüstung
Umso beunruhigter registriert die Bundesregierung, dass ausgerechnet diese Vereinbarung nun infrage steht. In den USA und auch in Teilen des Nato-Bündnisses gibt es Überlegungen, mit einem Ausbau der nuklearen Abschreckung auf einen seit Jahren vermuteten Bruch des INF-Vertrages durch Russland zu reagieren. Russland wiederum beklagt ebenfalls, dass die Amerikaner die Vereinbarung unterlaufen.
Der Streit ist bereits älteren Datums, aber nun droht er zu eskalieren. Erste Hinweise darauf, dass Russland einen neuen bodengestützten Marschflugkörper namens SSC-8 entwickelt, getestet und später auch stationiert haben soll, haben die USA bereits 2008 von ihren Geheimdiensten erhalten. 2011 gab man sich sicher, 2014 schrieb Barack Obama an Wladimir Putin und bot Verhandlungen an, man müsse eine neue Spirale der Aufrüstung verhindern. 2016 verlangten die Amerikaner die Einberufung des sogenannten Special Verifications Committees, um den Streit zu schlichten. 13 Jahre lang hatte die Kommission, die über die Einhaltung des INF wachen soll, zuvor nicht getagt.
Die USA und Russland wollen ihre Atomarsenale modernisieren
Alle bisherigen Verhandlungen gelten als gescheitert, stattdessen werden Vorwürfe ausgetauscht. Russland bestreitet den Bruch und verweist seinerseits auf eine in Rumänien und bald auch in Polen bereits einsatzbereite Raketenabwehr. Moskaus Verdacht ist, dass sich die Raketen gegen Russland richten können. Die USA sagen, diese seien nur geeignet, um etwaige Bedrohungen aus Iran zu bekämpfen.
Die Eiszeit in den Beziehungen und die Ankündigungen aus den USA und Russland, die Atomwaffenarsenale umfassend zu modernisieren, haben die Lage weiter erschwert. Zu dem wenigen, worauf sich Demokraten und Republikaner in diesen Tagen in Washington einigen können, gehört, Russland entschieden entgegenzutreten. Im Kongress wurden bereits die ersten gesetzgeberischen Schritte eingeleitet, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufkündigen könnten - dann würde drohen, dass die USA neue Raketen bauen und auch in Europa stationieren. Großes droht ins Rutschen zu kommen, "Europa steht am Rand eines neuen nuklearen Zeitalters," warnt der aus Hamburg stammende und am Carnegie-Institut für Internationalen Frieden in Washington forschende Nuklearexperte Ulrich Kühn im Bulletin of the Atomic Scientists. Die "schwelende Krise" um den INF-Vertrag sei die größte Herausforderung.