USA:Umstrittene Memoiren eines US-Grenzpolizisten

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Ein US-amerikanischer Grenzpolizist blickt nahe der texanischen Stadt Roma über den Grenzfluss Rio Grande. (Foto: AFP)

Francisco Cantú hat mexikanische Vorfahren - und jahrelang in den USA illegale Einwanderer verfolgt. Für das Buch über seine Erfahrungen wird er heftig angegriffen.

Von Beate Wild, Austin

Warum arbeitet der Enkel von mexikanischen Einwanderern mehrere Jahre als Grenzpolizist? Warum versucht er, illegalen Einwanderern das Überqueren der mexikanisch-amerikanischen Grenze so schwer wie möglich zu machen, sie zu jagen, zu verhaften und umgehend abschieben zu lassen? Francisco Cantú, US-Amerikaner aus Arizona, hat diesen oftmals grausamen Job vier Jahre lang gemacht und nun ein Buch darüber geschrieben. Er wolle das Rätsel der Grenze lösen, erklärte der damals 23-jährige Cantú seiner entsetzten Mutter, als er die Stelle nach seinem Studium annahm.

Von seinem Dienst an der 2000 Meilen langen Grenze erhofft sich Cantú Antworten auf Fragen, die er nicht versteht: Welche Leute sind das, die über die Grenze kommen? Nur arme Menschen auf der Suche nach Arbeit? Oder doch Vergewaltiger, Drogendealer, Kriminelle - also "bad hombres", wie US-Präsident Donald Trump die Migranten später im Wahlkampf genannt hat? "Ich will die Wirklichkeit an der Grenze mit eigenen Augen sehen", sagt Cantú.

Sein Buch "The Line Becomes a River" hat in den zwei Wochen seit seinem Erscheinen heftige Kontroversen ausgelöst. Bei Lesungen kam es zu Protesten von Einwanderungsaktivisten. In Austin musste die Veranstaltung abgebrochen werden, nachdem der Autor als "Verräter" und "Stück Scheiße" beschimpft worden war. Er stelle die "Schicksale anderer und ihre Leidensgeschichten" aus und habe "vom Mord an unschuldigen Menschen" profitiert, riefen die Demonstranten immer wieder, berichtete der Austin Chronicle.

Wie an diesem Fall gut zu sehen ist, löst das Thema Grenze und illegale Einwanderung im Amerika von Donald Trump heftige Gefühle aus - sowohl bei den Einwanderungsgegnern als auch bei den Befürwortern. Dabei ist "The Line Becomes a River" vor allem die Geschichte eines persönlichen inneren Kampfes - bei dem am Ende eine Läuterung steht.

Hilfsbedürftige oder "bad hombres"?

Als Grenzpolizist muss Cantú vier Jahre lang Berge und Wüste nach Fußspuren der Illegalen absuchen und ihre Vorratsbunker aufspüren und vernichten. Wenn er und seine Kollegen die von der Flucht völlig erschöpften Menschen fassen, dann werden sie auf das Revier gebracht - zur Registrierung und Abschiebung.

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"Hast du jemals einen Narco verhaftet?", fragt ihn ein Freund. Doch Cantú muss zugeben, dass er bei seinem Job im unwirtlichen Gelände entlang des Rio Grande vor allem verzweifelte Migranten aufgreift. Die Drogenkuriere, die er erwischt, sind in der Hierarchie weit unten angesiedelt. Gefährliche und wichtige Drogenbosse treiben sich sowieso nicht persönlich im Grenzgebiet herum. Und diejenigen, die die Ware nach Nordamerika bringen, werden von den Grenzbeamten oft absichtlich laufen gelassen.

Als Cantú mit Kollegen einen größeren Cannabis-Fund macht und sich anschließend auf dem Weg machen will, um die Schmuggler zu verfolgen und zu stellen, antwortet ihm sein Vorgesetzter: "Auf gar keinen Fall! Verdächtige bedeuten, dass du einen Schmuggel-Fall an der Backe hast. Und das bedeutet verdammt viel Papierkram."

Also verlegen sich die Grenzbeamten darauf, versteckte Essensvorräte und Wasserkanister zu zerstören. Manchmal urinieren sie auf die von Migranten zurückgelassenen Sachen. Kommen die Flüchtenden später aus ihren Verstecken, stehen sie mitten in der Wildnis ohne Nahrung und Wasser da. Was ihnen nicht selten das Leben kostet.

Im Buch beschreibt Cantú aber auch, wie er Migranten hilft. Einem, der sein Shirt verloren hat, schenkt er sein Unterhemd und lädt ihn auf einen Burger ein. Einer verletzten Frau verbindet er die mit Blasen übersäten Füße. Und als er im Sommer zwei Jugendliche aufgreift, warnt er sie davor, den Grenzübertritt unter keinen Umständen mehr in der unerbittlichen Hitze zu versuchen. "Im Sommer sterben Leute jeden Tag", ist Cantús Erfahrung.

Von Oktober 2000 bis September 2017 registrierte der US-Grenzschutz mehr als 6700 Tote. Doch die Dunkelziffer ist wesentlich höher. "Ich würde sagen, für jeden, den wir finden, gibt es fünf andere, die wir nicht finden", sagte Sheriff Urbino Martinez der New York Times im vergangenen Jahr. Das Problem sei, dass diese hohen Zahlen ignoriert würden, weil diese Menschen nicht bei einem einzigen Vorfall wie einer Naturkatastrophe oder einem Flugzeugabsturz sterben, sondern über Monate und Jahre verteilt.

Nach vier Jahren hält es Cantú nicht mehr aus in seinem Job. Er kündigt und geht zurück an die Uni. In dem Coffeeshop, in dem Cantú dann jobbt, freundet er sich mit José an, einen mexikanischen Familienvater, der illegal im Land ist. Als Josés Mutter im Sterben liegt, will der Sohn sie ein letztes Mal sehen und besucht sie in Mexiko. Anschließend wird er bei seinem Versuch, die Grenze in die USA erneut illegal zu überqueren, festgenommen und abgeschoben.

Cantú hilft daraufhin der verzweifelten Familie bei Gerichtsterminen und mit dem Papierkram. Als sich ein Freund dieser Familie wundert, warum ausgerechnet ein ehemaliger Beamter der "Migra" ( der Migrationsbehörde; Anm. d. Red.) dem illegalen Einwanderer José hilft, kommt Cantú ins Grübeln. Wollte er in Wahrheit vielleicht wiedergutmachen, dass er in seinem früheren Leben so viele Menschen wieder zurück über die Grenze geschickt hatte? "Wenn ich Erlösung suchen würde, wie würde diese Erlösung aussehen?", fragt sich Cantú.

Der falsche Weg sei es jedenfalls, die von ihm zerstörten Schicksale in einem Buch auszubreiten und damit auch noch Kasse zu machen, finden die Aktivisten, die bei seinen Lesungen Proteste abhalten. Dabei erfüllt "The Line Becomes a River" trotz dieser durchaus berechtigten Kritik eine wertvolle Aufgabe: Es beleuchtet eine humanitäre Katastrophe, die sich tagtäglich in den USA abspielt, über die aber viel zu wenig an die Öffentlichkeit dringt.

Autor will "zum Nachdenken anregen"

Francisco Cantú gewährt einen seltenen Einblick in den Arbeitsalltag der Grenzpolizei, einer Welt, die dem normalen Bürger sonst verschlossen bleibt. Doch der Autor zeigt nicht nur, wie die Mechanismen an der Grenze funktionieren - er reflektiert auch über deren Sinn und hinterfragt etablierte Handlungsschemata.

Sowohl im Buch als auch in seinen Äußerungen distanziert sich Cantú von seiner Erfahrung und seinem früheren Arbeitgeber. "In aller Klarheit: Während meiner Jahre als Grenzpolizist war ich Komplize in der Aufrechterhaltung institutioneller Gewalt und einer fehlerhaften, tödlichen Politik. In meinem Buch geht es darum, dies anzuerkennen. Es soll zum Nachdenken anregen über die Art und Weise, wie wir Gewalt normalisieren und Migranten als Individuen und als Gesellschaft entmenschlichen", schreibt der Autor bei Twitter.

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Die Demonstranten in Austin, New York und bei anderen Lesungen haben entweder Cantús Buch nicht gelesen oder sie wollen ihn aus Prinzip nicht verstehen - nach dem Motto: Cops verdienen keine Sympathie. In Zeiten, in denen US-Präsident Trump aber an genau jener Grenze eine Mauer errichten will und gerade dabei ist, 5000 neue Grenzpolizisten anzuheuern, ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Debatte.

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