Es gibt Streitfälle, bei denen mag der Anlass banal sein, doch der zugrunde liegende Konflikt ist höchst relevant und fundamental. So ist es bei dem derzeitigen Gezerre zwischen den Demokraten und dem Präsidenten in Washington um den sogenannten Mueller-Bericht.
Der Anlass mutet eher läppisch an: Der Präsident und der Justizminister weigern sich, eine komplette Fassung des Berichts ans Parlament zu schicken. Die Demokraten rügen deswegen den Minister wegen Missachtung des Kongresses. Dabei ist dieser Bericht längst öffentlich. Wer wissen will, was der fleißige Sonderermittler Robert Mueller über Donald Trump und Russland herausgefunden hat, über Kollusion und Justizbehinderung, der kann es nachlesen, selbst wenn einige Stellen des Berichts geschwärzt wurden.
Warum also die Aufregung? Weil es bei diesem Kampf um mehr geht als um einige unleserliche Zeilen in einem 400-Seiten-Report. Es geht um Macht, vor allem aber geht es um deren Verteilung und Balance. Das ist der zugrunde liegende Konflikt bei dem Streit - wer ist mächtiger? Der Präsident oder der Kongress?
Amerikas Verfassung gibt auf diese Frage keine klare Antwort. In ihr ist die Staatsgewalt aufgeteilt zwischen Präsident und Parlament, zwischen Exekutive und Legislative. Beide werden vom Volk gewählt und verfügen daher über eine große, jeweils demokratisch legitimierte Machtfülle.
Die Legislative muss überwachen können, ob die Exekutive Gesetze ausführt
Ein Grundsatz dieser Gewaltenteilung ist aber, dass das Parlament kontrollieren darf, was der Präsident tut. Die Legislative muss überwachen können, ob die Exekutive jene Gesetze ausführt, die der Kongress erlassen hat. Sonst hätte die Macht des Parlaments in der Praxis keine Folgen, der Präsident wäre eine Art gewählter König - mithin genau das, was die Gründerväter der USA vermeiden wollten.
Trumps Weigerung, dem Abgeordnetenhaus eine ungeschwärzte Version des Mueller-Berichts zu geben, rührt an dieses fundamentale Prinzip. Denn wirksame Kontrolle setzt Wissen voraus. Ein Präsident muss den Kongress nicht über jedes vertrauliche Gespräch informieren. Aber er kann das Parlament auch nicht einfach auflaufen lassen, wie Trump es macht, indem er sich pauschal weigert, Dokumente herauszugeben oder Mitarbeiter im Kongress aussagen zu lassen.
Die Demokraten sind an dieser verfahrenen Lage nicht unschuldig. Sie haben ihre neue Mehrheit im Abgeordnetenhaus genutzt - manche sagen: missbraucht -, um eine Flut von Untersuchungen gegen den Präsidenten zu beginnen. Es mag also sein, dass Trump sich bedrängt und verfolgt fühlt. Aber das erlaubt es ihm nicht, einfach das gesamte Kontrollrecht des Kongresses zu blockieren.
Es ist wohl noch zu früh, von einer Verfassungskrise zu sprechen. Doch Amerika nähert sich dieser an. Am Ende könnte das Szenario stehen, das Nancy Pelosi, die Demokratenführerin im Abgeordnetenhaus, jüngst gezeichnet hat: Wenn Trump seine Macht weiter missbraucht, die Rechte des Parlaments weiter ignoriert und so die Gewaltenteilung untergräbt, dann bleibt den Demokraten gar nichts anderes übrig, als irgendwann ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einzuleiten.
Man konnte Pelosi allerdings anmerken, dass das für sie keine erfreuliche Aussicht ist. Denn die Demokraten stecken in einem Dilemma. Einerseits wollen und müssen sie den Kampf mit Trump ausfechten. Sie wollen dem verhassten Präsidenten Kontra geben. Und sie müssen die Befugnisse des Kongresses und die Verfassung gegen einen Präsidenten verteidigen, der sich für einen Imperator hält.
Die meisten Amerikaner interessiert das Hickhack um Mueller und Russland nicht
Andererseits müssen die Demokraten aufpassen, dass sie nicht in einem Streit mit Trump versinken, in dem sie zwar aus verfassungsrechtlicher Sicht auf der richtigen Seite stehen, in dem es aber politisch nichts zu gewinnen gibt.
Die meisten Amerikaner interessiert das Hickhack um Mueller und Russland nicht. Sie glauben Trump nicht, wenn er seine Unschuld beteuert. Aber sie halten die Rechtsverstöße des Präsidenten nicht für so gravierend, dass man deswegen hysterisch nach einem Impeachment schreien müsste. Diese Einschätzung deckt sich ungefähr mit den Erkenntnissen von Mueller; und sie zeigt, dass Amerikas Bürger sich inmitten des Trump'schen Chaos durchaus Vernunft und Augenmaß bewahrt haben.
Jeder Tag, an dem die Demokraten sich über die geschwärzten Zeilen im Mueller-Bericht aufregen, ist daher ein Tag, an dem sie nicht über die Dinge sprechen, die den Leuten, die nächstes Jahr zur Präsidentschaftswahl gehen werden, wirklich wichtig sind - eine bezahlbare Krankenversicherung, ein sicherer Job, eine vernünftige Ausbildung und dass die Kinder in der Schule nicht erschossen werden.
Ein Amtsenthebungsverfahren gehört nicht zu den Dingen, welche die Wähler umtreiben. Darüber würde sich nur einer freuen: Donald Trump, der sich dann wieder als Opfer einer linken Verschwörung bezeichnen könnte. Wer weiß, vielleicht will der Präsident die Demokraten genau in diese Falle treiben.