Süddeutsche Zeitung

Supreme Court in den USA:Ouvertüre zu einem unschönen Schauspiel

Der US-Senat beginnt mit der Anhörung von Amy Coney Barrett. Mit ihr wollen die Republikaner langfristig eine konservative Mehrheit am Supreme Court zementieren.

Von Christian Zaschke, New York

Dass es eine ungewöhnliche Sitzung des Justizausschusses des US-Senats war, die am Montag begann, exakt 22 Tage vor den Präsidentschaftswahlen, machte schon die Gestaltung des Versammlungsraums im Kapitol deutlich. Mit Abstand waren die Stühle verteilt, auf den Tischen standen Hand-Desinfektionsmittel, getrunken werden musste aus Plastikbechern. Dass zudem sämtliche Anwesenden Masken trugen, zeigte, dass die Pandemie im Senat ernster genommen wird als im Weißen Haus. Vor allen Dingen aber war es eine ungewöhnliche Sitzung, weil erstmals in der Geschichte der USA eine freie Stelle am Supreme Court so kurz vor einer Wahl besetzt werden soll.

Die Republikaner sind entschlossen, die Nominierung der 48 Jahre alte Amy Coney Barrett für den Posten zu bestätigen, der durch den Tod von Ruth Bader Ginsburg Mitte September frei geworden ist. Das würde die Mehrheitsverhältnisse am Gericht zementieren. Wenn Barretts Nominierung Ende Oktober bestätigt wird, wovon fest auszugehen ist, sitzen sechs konservative Richterinnen und Richter lediglich drei liberalen Kolleginnen und Kollegen gegenüber. Da die Posten auf Lebenszeit vergeben werden, wird die Ernennung Barretts weit über die Präsidentschaft von Donald Trump hinausweisen, ganz gleich, ob er am 3. November wiedergewählt wird oder nicht.

Bis zum Donnerstag stellt sich Barrett den Fragen der 22 Mitglieder des Justizausschusses. Es ist davon auszugehen, dass es ein langes, mitunter unschönes Schauspiel wird, was viel damit zu tun hat, dass auf der einen Seite sich die Republikaner die historische Chance nicht entgehen lassen wollen, die Mehrheit am Gericht auf lange Sicht zu verändern, und auf der anderen Seite die Demokraten der Ansicht sind, der ganze Prozess hätte nie begonnen werden dürfen. Ihrer Ansicht nach soll die freie Stelle erst nach der Wahl besetzt werden.

Amy Coney Barrett liest die US-Verfassung so, wie sie einst die Gründerväter verstanden

Exakt diesen Punkt griff der Ausschuss-Vorsitzende Lindsey Graham am Montag in seinen einleitenden Bemerkungen auf. Seine Äußerungen wirkten wie die gewundene Rechtfertigung von jemandem, der weiß, dass er etwas Fragwürdiges tut, aber die Sache jetzt trotzdem durchzieht. Er betonte mehrmals, das Vorgehen der Republikaner stehe im Einklang mit der Verfassung. Zudem werde ein Präsident für vier Jahre gewählt und nicht für drei, weshalb Trump das Recht habe, den freien Posten zu besetzen. Beides ist richtig.

Die Demokraten berufen sich jedoch darauf, dass es in Barack Obamas letztem Amtsjahr einen ähnlich gelagerten Fall gab. Im Februar 2016 war der konservative Richter Antonin Scalia gestorben. Obama wollte ihn mit dem moderaten Merrick Garland ersetzen. Die Republikaner weigerten sich allerdings, Garland überhaupt anzuhören. Das war möglich, weil sie über eine Mehrheit der Sitze im Senat verfügten, der letztlich über die Nominierung entscheidet. Ihre Begründung damals, neun Monate vor der Wahl: So kurz vor Präsidentschaftswahlen solle kein Posten am Supreme Court besetzt werden. Dieses Recht müsse dem nächsten Präsidenten oder der nächsten Präsidentin zufallen.

Von dieser Argumentation wollen die Republikaner heute nichts mehr wissen. Sie verweisen unter anderem darauf, dass sie noch immer über die Mehrheit im Senat verfügen. Für Lindsey Graham persönlich steht die Peinlichkeit im Raum, dass er 2018 zugesichert hatte, dass man in einem derart gelagerten Fall selbstverständlich bis nach der Wahl warten werde. Nun ist er als Vorsitzender des Ausschusses die treibende Kraft bei der Neubesetzung.

Zunächst sprach Graham über die verstorbene Ruth Bader Ginsburg. Er verwies darauf, dass sie 1993 vom Senat mit einer Mehrheit von 96 zu drei Stimmen bestätigt wurde. Fast ungläubig wiederholte er diese Zahl. "Diese Zeiten sind vorbei", sagte er und fragte: "Was ist zwischen damals und heute passiert?" Die simple Antwort ist, dass sich die Fronten zwischen den Parteien extrem verhärtet haben, was nicht zuletzt daran liegt, dass man dem Wort der Gegenseite kein Vertrauen mehr schenken kann. "Vielleicht", mutmaßte Graham, "müssen wir alle einen Teil der Schuld auf uns nehmen." Klar dürfte sein, dass von den Demokraten niemand für Barrett stimmen wird, was nicht nur am Verfahren liegt, sondern auch an der Richterin selbst.

"Wer ist sie?", fragte Graham, um kurz selbst zu antworten: Barrett wuchs in New Orleans auf, sie hat sieben Kinder, zwei davon aus Haiti adoptiert. Sie war eine brillante Studentin und Jura-Professorin an der Universität von Notre Dame. Zuletzt arbeitete sie als Bundesrichterin an einem Berufungsgericht. Was Graham nicht erwähnte: Barrett ist Katholikin und gehört mit ihrem Mann Jesse Barrett einer Gruppe namens "People of Praise" an, die zirka 1650 Mitglieder hat und unter anderem an Traditionen wie das Sprechen in Zungen glaubt. Kritiker sprechen von einer Sekte.

Ebenso wenig erwähnte er, dass Barrett Anhängerin des "Originalismus" oder "Textualismus" ist, einer Rechtsauslegung, die davon ausgeht, die Verfassung solle heute exakt so verstanden werden, wie die Gründerväter der USA sie im 18. Jahrhundert verstanden. Gerichte müssten Verfassung und Gesetze so interpretieren, "wie sie geschrieben sind", sagte Barrett am Montag. Diese Auslegung wird in konservativen Kreisen beliebter, liberalere juristische Zirkel gehen eher der Frage nach, was die Verfassung angewandt auf heutige Verhältnisse bedeuten könnte.

Lindsey Graham sagte, er wolle seinen "demokratischen Freunden" alle Zeit geben, die Nominierung Barretts zu prüfen. Er räumte allerdings ein, dass es in der Anhörung wohl eher nicht darum gehe, irgendjemanden zu überzeugen. Wie die Abstimmung ausgeht, ist ohnehin klar.

Demokratische Senatoren versuchten in der ersten Anhörung, Barrett als Gefahr für "Obamacare" darzustellen. Am 10. November ist eine Verhandlung des Supreme Court geplant über das von Trumps Vorgänger Barack Obama eingeführte Gesetz, das vielen US-Bürgerinnen und Bürgern eine Krankenversicherung ermöglicht.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2020
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