USA:Symbolische Rückeroberung

USA: Präsident Joe Biden bei seiner Rede in der Statuary Hall des Kapitolgebäudes, durch die am 6. Januar 2021 ein gewalttätiger Mob zog.

Präsident Joe Biden bei seiner Rede in der Statuary Hall des Kapitolgebäudes, durch die am 6. Januar 2021 ein gewalttätiger Mob zog.

(Foto: KEVIN LAMARQUE/REUTERS)

Am Jahrestag der Erstürmung des Kapitols redet US-Präsident Joe Biden nicht drumherum: Er gibt seinem Vorgänger Donald Trump die Schuld an der Gewalt.

Von Hubert Wetzel, Washington

Den Ort seiner Rede hatte Joe Biden mit Bedacht gewählt: die National Statuary Hall, einer der prachtvollsten Räume des Kapitols, voller Säulen und Statuen. 1814 wüteten dort britische Besatzungssoldaten. Am 6. Januar 2021 waren es Trump-Anhänger, die über den Marmorboden trampelten, nachdem sie das Parlamentsgebäude attackiert hatten.

Am Donnerstag, dem ersten Jahrestag des Sturms auf das Kapitol, stand der amerikanische Präsident in dem Saal - eine Art symbolische Rückeroberung. Schließlich wollten die Angreifer vor einem Jahr verhindern, dass der Kongress den Wahlsieg von Joe Biden offiziell bestätigt. Dann, so hatte es ihnen der Wahlverlierer und damals noch amtierende Präsident Donald Trump eingeredet, könne er im Amt bleiben. Das war zwar genauso eine Lüge wie Trumps Gerede davon, dass er die Wahl gewonnen habe und die Demokraten ihm den Sieg gestohlen hätten. Aber die Menschen, die damals das Kapitol stürmten, glaubten ihm. Und zig Millionen Amerikaner glauben diese Lüge immer noch.

Biden ließ in seiner Rede keinen Zweifel daran, wem er die Schuld für die Gewalt am 6. Januar gibt - Donald Trump. Der Präsident spricht fast nie über seinen Vorgänger, aber am Donnerstag tat er es: "Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Übergabe der Macht zu verhindern", sagte Biden. "Er tat es, weil sein verletztes Ego ihm mehr bedeutet als unsere Demokratie und unsere Verfassung. Er kann nicht hinnehmen, dass er verloren hat."

Joe Biden warnt: Im Netz der Lügen kann die Demokratie zerbrechen

Und Biden hatte eine Warnung für alle, die weiter in Trumps "Netz aus Lügen" festhängen: Amerikas Demokratie könnte daran zerbrechen. "Wir müssen uns entscheiden, was für eine Art Nation wir sein werden", mahnte der Präsident. "Werden wir eine Nation sein, die politische Gewalt als Norm hinnimmt? Werden wir eine Nation sein, die nicht durch das Licht der Wahrheit lebt, sondern im Schatten von Lügen?" Werde Amerika zulassen, dass - wie die Republikaner es in vielen Bundesstaaten durchsetzen wollen - Parteifunktionäre über Wahlergebnisse entscheiden? Welche Antwort sich Biden wünscht, machte er am Donnerstag klar: "Der einzige Weg vorwärts ist, die Wahrheit zu erkennen und mit ihr zu leben."

Die Wahrheit zu erkennen und mit ihr zu leben, sind in politischer Hinsicht allerdings zwei unterschiedliche Dinge. So kann man durchaus annehmen, dass viele Republikaner die Wahrheit kennen. Das gilt vor allem für das Gros der Parlamentarier der Partei und ihre Unterstützer in den konservativen Medien. Sie wissen, dass Biden die Wahl im November 2020 ohne Betrug gewonnen hat. Und sie wissen, dass ihr ehemaliger Präsident Trump die Angreifer am 6. Januar durch seine Lügen zu Gewalt aufgestachelt hat. Es war kein Zufall, dass Trump aus diesen Kreisen in den vergangenen Tagen flehentlich - und schließlich mit Erfolg - darum gebeten wurde, auf seine geplante Pressekonferenz zum Jahrestag des 6. Januars zu verzichten. Zu groß war die Angst, dass der Altpräsident wieder wirres Zeug über Wahlbetrug erzählt und über aufrechte Patrioten, die eingesperrt worden seien, weil sie am 6. Januar dagegen protestiert hätten.

Diese Wahrheiten jedoch öffentlich auszusprechen und tatsächlich mit ihnen zu leben, fällt den meisten Republikanern immer noch sehr schwer. So arbeitet nur eine Abgeordnete und ein Abgeordneter der Partei in dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses zum 6. Januar mit, Liz Cheney und Adam Kinzinger. Beide gelten in ihrer Fraktion als Verräter.

Auch am Donnerstag zeigte sich die Haltung der Republikaner zum 6. Januar: Unter den Abgeordneten und Senatoren, die an den Gedenkveranstaltungen im Kongress teilnahmen, waren fast nur Demokraten - obwohl an jenem Tag auch Republikanerinnen und Republikaner in Todesangst vor dem Mob geflohen waren. Als der republikanische Senator Ted Cruz kürzlich den Angriff auf das Kapitol als einen "Terrorakt" bezeichnete, schlug ihm von rechten Kommentatoren sofort heftiger Protest entgegen. Ein Krawall sei das vielleicht gewesen, ein gewalttätiger Protest, aber doch kein Terrorismus. Das "Netz aus Lügen", das Biden beklagte, ist sehr stabil.

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