Die Lage ist ernst, daran lassen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt keine Zweifel. Ihr Buch "Wie Demokratien sterben" war 2017 zum Bestseller geworden ( SZ-Rezension hier), weil die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten viele überrascht und schockiert hatte. Der autoritäre "Angriff auf die amerikanische Demokratie" unter Trump habe alles übertroffen, was sie sich 2017 vorstellen konnten, schreibt das Autorenduo im Nachfolger mit dem Titel "Die Tyrannei der Minderheit", der an diesem Mittwoch in den Buchhandel kommt. Denn eigentlich war sich die Politikwissenschaft einig: Reiche Demokratien sterben ebenso wenig wie alte Demokratien, und reich und alt sind die USA ohne Zweifel.
Die zwei Harvard-Professoren warnen davor, angesichts der Niederlage Trumps gegen Joe Biden 2020 dem Irrtum zu erliegen, "als wären wir der Kugel ausgewichen - als hätte das System letzten Endes funktioniert". Auch dass alle Republikanerkandidaten, die Trumps Niederlage weiter nicht anerkennen, bei der Kongresswahl 2022 verloren, beruhigt sie nicht. Die Probleme reichen viel tiefer, und sie haben vor allem mit der US-Verfassung aus dem Jahr 1787 zu tun, der ältesten geschriebenen Verfassung der Welt.
Latinos und Afroamerikaner werden weiter diskriminiert
Der Untertitel "Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können" verdeutlicht den Anspruch: Die Autoren bieten außer einer Analyse mit spannenden Details der US-Geschichte und internationalen Vergleichen auch Lösungen. Zentral sind zwei Begriffe: die "multiethnische Demokratie" und die "Tyrannei der Minderheit".
In einer multiethnischen Demokratie gebe es "reguläre, freie und faire Wahlen, in denen erwachsene Staatsbürger aller ethnischen Gruppen sowohl das Wahlrecht als auch grundlegende bürgerliche Freiheiten besitzen, wie die Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit". Entscheidend ist, dass die Rechte real existieren und es keine Diskriminierung gibt. Davon kann aktuell keine Rede sein: Schwarzen und Latinos wird der Zugang zur Wahl durch schikanöse Regeln erschwert, und "Gesetze, die Vorbestraften das Wahlrecht entziehen, betreffen unverhältnismäßig viele Afroamerikaner".
Wichtig ist das Konzept angesichts der Demografie: Waren in den 1960er-Jahren noch fast 90 Prozent der US-Bevölkerung weiß, so sind es jetzt noch 60 Prozent. Und bei den unter 18-Jährigen sind die Weißen bereits in der Minderheit. Als Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre und die Reformgesetze änderte sich das Parteiensystem: Die Demokraten verloren die Südstaaten, und die Republikaner wurden zur Partei weißer Christen.
Sie sind die Gruppe, die heute überzeugt ist, dass sich ihr Land zum Schlechteren verändert - und sehen daher die multiethnische Demokratie kritisch. Auch deswegen verfolgen die Republikaner laut Levitsky und Ziblatt eine einwanderungsfeindliche Politik - und zwar schon vor Trumps Präsidentschaftskandidatur.
Die Wahlsieger können zu wenig durchsetzen
Der provokante Begriff der "Tyrannei der Minderheit" beschreibt das Phänomen, dass im politischen System der USA die Schutzrechte der Minderheit heute zu stark ausgeprägt sind. Als 1787 in Philadelphia die Verfassung geschrieben wurde, sorgten sich die dort versammelten weißen Männer, dass die Mehrheit zu viel durchdrücken könne - und entwickelten "gegenmajoritäre" Institutionen. Mehrere haben nun zur Folge, dass die USA heute ein Land sind, das "seinen demokratischen Idealen" nicht gerecht wird.
Als erstes Problem wird der US-Senat identifiziert, in den jeder der 50 Bundesstaaten zwei Menschen entsendet. Dies hat zur Folge, dass eine Wählerin in Wyoming (575 000 Einwohner) etwa 70-mal mehr Macht hat als ein Wähler in Kalifornien, wo 40 Millionen Menschen leben. Der ländliche Raum wird so enorm bevorzugt - und dort siegen fast immer die Republikaner. Dies ist relevant, weil Senat und Repräsentantenhaus (dort vertritt eine Abgeordnete Wyoming und 52 Politiker Kalifornien) im Gesetzgebungsprozess gleichberechtigt sind. Zudem gibt es den Filibuster : Um dieses Vetorecht von Senatoren zu beenden, ist die qualifizierte Mehrheit von 60 Stimmen nötig - in Zeiten knapper Mehrheiten und großer Polarisierung sterben viele Gesetzesentwürfe daher einen stillen Tod.
Das zweite Problem ist die US-Verfassung. Levitsky und Ziblatt halten sie nicht mehr für zeitgemäß, weil die Hürden für Änderungen zu hoch sind. Außer Zweidrittelmehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus braucht es auch die Zustimmung von drei Vierteln der Bundesstaaten - kein Wunder, dass die letzte Verfassungsänderung 32 Jahre zurückliegt. Hochproblematisch ist auch das electoral college, das 538-köpfige Wahlmännergremium. Eine solch indirekte Präsidentschaftswahl bevorzugt nicht nur kleine Bundesstaaten: Sie ermöglicht auch, dass Verlierer der allgemeinen Wahl trotzdem die Präsidentschaft gewinnen. So geschah es 2000 bei George W. Bush und 2016 bei Trump.
Das Abdriften ins Autoritäre ist jederzeit möglich
Treffend ist folgendes Szenario: "Ein 1980 geborener Amerikaner, der 1998 oder 2000 zum ersten Mal wählen ging, hat erleben müssen, dass die Demokraten zwar in jedem Sechs-Jahres-Zyklus des US-Senats und bei allen Präsidentschaftswahlen, bis auf eine, die Direktwahl gewonnen haben, er aber trotzdem den größten Teil seines Erwachsenenlebens unter republikanischer Präsidentschaft, republikanischer Senatsmehrheit und einem von republikanischen Kandidaten dominierten Obersten Gerichtshof verbracht hat." Dass dies das Vertrauen in die US-Demokratie untergräbt, leuchtet ein.
Der Supreme Court ist das dritte Problem: "Die konservative Mehrheit des Gerichts wurde von einer parteilichen Minderheit installiert." Denn dank des electoral college konnte Trump (er erhielt 2016 weniger Stimmen als Hillary Clinton) der republikanischen Mehrheit im Senat (auch hier erhielten eigentlich die Demokraten mehr Stimmen) zwei verhältnismäßig junge Richter und eine Richterin vorschlagen, die nun auf Lebenszeit berufen sind und wohl Jahrzehnte Recht sprechen.
Sind die Autoren aber parteiisch, wenn sie nur die Republikaner kritisieren und fast genüsslich den Economist zitieren, wonach sich die Grand Old Party "von der Demokratie verabschiedet" habe? Die Lektüre des Buches liefert eine Vielzahl an Belegen, wo republikanische Politiker alle Mittel nutzen, um etwa die Wahlbeteiligung niedrig zu halten oder die Ängste ihrer Kernklientel schüren. Nur 2012, nach der Wiederwahl Obamas, wurde ernsthaft überlegt, inklusiver aufzutreten und etwa um Latinos zu werben.
Wahlen künftig lieber am Wochenende
"Wir generieren nicht genug wütende Weiße, um langfristig im Geschäft zu bleiben", sagte damals Senator Lindsey Graham. Er ist heute ein absoluter Trump-Fan, und damit nach der Definition von Ziblatt und Levitsky wie Dutzende hochrangige Republikaner nur ein "halbloyaler" Demokrat: Ihnen ist die eigene Karriere beziehungsweise der Erfolg ihrer Partei wichtiger als die Verteidigung demokratischer Institutionen. Ein Abdriften ins Autoritäre wird durch sie ermöglicht, weil sie sich nicht klar genug von Trump und seinen Lügen sowie Attacken auf Richter und Verfassungsorgane distanzieren.
Die Vorschläge, wie die USA das Niveau vergleichbarer etablierter Demokratien erreichen könnte, sind wenig überraschend, aber präzise. Wahlen sollen künftig am Wochenende abgehalten und alle Bürgerinnen und Bürger automatisch registriert werden - dies würde Ärmere und damit Minderheiten schützen. Um zu gewährleisten, dass der Wahlausgang dem Mehrheitswillen entspricht, soll der Präsident künftig direkt gewählt und der Senat vergrößert werden. Um die regierenden Mehrheiten zu stärken, sollen der Filibuster abgeschafft und die Amtszeiten der Richter am Supreme Court begrenzt werden - etwa auf zwölf oder 18 Jahre.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt rechnen nicht mit einer schnellen Umsetzung ihrer Ideen. Sie wollen mit ihrem lesenswerten Buch aufrütteln, denn bisher fehle in der öffentlichen Debatte jede Fantasie dafür, die Verfassung zu ändern. Es brauche wohl eine neue Bürgerrechtsbewegung, die den "langen und mühseligen Kampf aufnimmt", die US-Demokratie wirkungsvoll vor Leuten wie Donald Trump zu schützen. Nichtstun sei aber keine Option: "Künftige Generationen werden Rechenschaft von uns verlangen."