USA:Mit einem 100 Jahre alten Gesetz gegen Whistleblower

USA: Einer der ersten Whistleblower: Daniel Ellsberg gab 1971 geheime Papiere über den Vietnamkrieg an die Presse. Er wurde wegen Spionage angeklagt, aber nicht verurteilt. Das Bild rechts zeigt ihn 2006 auf einer Anti-Kriegs-Demonstration in Washington.

Einer der ersten Whistleblower: Daniel Ellsberg gab 1971 geheime Papiere über den Vietnamkrieg an die Presse. Er wurde wegen Spionage angeklagt, aber nicht verurteilt. Das Bild rechts zeigt ihn 2006 auf einer Anti-Kriegs-Demonstration in Washington.

(Foto: Getty Images; AFP)

Mit dem "Espionage Act" wollten die USA ursprünglich gegen Spione vorgehen. Heute kommt das Gesetz immer wieder gegen Whistleblower zum Einsatz. Ein Überblick.

Von Markus C. Schulte von Drach

Vielleicht hat die 25-Jährige ihren Namen als Aufforderung verstanden, aufzudecken, was versteckt ist, und der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen: Reality Winner muss vor Gericht, weil sie Geheimnisse der National Security Agency (NSA) weitergegeben hat. Sie ist angeklagt wegen Verstößen gegen ein Gesetz, das genau 100 Jahre alt ist. Ein zumindest fragwürdiges Gesetz.

Am 15. Juni 1917 trat der sogenannte "Espionage Act" in Kraft, der verhindern soll, dass jemand durch die Weitergabe oder den Missbrauch von Informationen die Landesverteidigung gefährdet. Entsprechend lautet der Vorwurf gegen Winner: "Sammeln, Weitergeben oder Verlieren von Informationen über die Verteidigung". Ihr drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Der "Espionage Act" kam zu einem Zeitpunkt, als die USA gerade in den Ersten Weltkrieg eingetreten waren. Die Landesverteidigung war besonders wichtig - so wichtig, dass das Gesetz bereits 1918 um den "Sedition Act" erweitert wurde. Nun waren bereits negative Berichte über die Bemühungen der Regierung im Krieg und das Lächerlichmachen der Flagge oder der Streitkräfte eine Straftat. Diese Erweiterung wurde 1921 allerdings wieder aufgehoben, denn sie war kaum mit der Meinungsfreiheit zu vereinbaren, die im 1. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung festgelegt ist.

Auch im Fall Reality Winner geht es um Informationen über die Landesverteidigung. Konkret hat Winner der US-Website The Intercept vertrauliche Erkenntnisse der NSA zukommen lassen über einen Angriff mutmaßlicher russischer Hacker auf einen Hersteller von Software, die bei Wahlen zum Einsatz kommt. Stattgefunden hat der Angriff vor der Wahl des US-Präsidenten 2016. Die Diskussion über russische Einflussnahme beschäftigt noch heute das ganze Land.

Gegen Sozialisten, Kriegsgegner und sowjetische Spione

Als Angeklagte auf der Grundlage des "Espionage Act" ist Winner in äußerst illustrer Gesellschaft. So wurde bereits 1917 die Sozialistin Carrie Katherine Richards nach einer Rede gegen die Rekrutierung durch das Militär verurteilt, im Jahr darauf kam es zu einem entsprechenden Urteil gegen den Sozialistenführer und Kriegsgegner Eugene V. Debs.

Sogar gegen den Filmproduzenten Robert Goldstein wurde das Gesetz angewandt, weil in dem von ihm produzierten Film "The Spirit of 76" Gräueltaten britischer Soldaten an amerikanischen Unabhängigkeitskämpfern dargestellt wurden - obwohl Großbritannien doch nun ein Kriegsverbündeter war. Es handelte sich um einen Spielfilm mit dokumentarischen Elementen.

1918 wurden einige Führer der Zeugen Jehovas - damals noch "Watch Tower Bible and Tract Society" - verurteilt, weil sie in dem Buch "The Finished Mystery" dargelegt hatten, warum sie die Teilnahme am Krieg verweigerten und verurteilten. Ein Grund: Es gebe einen "bestimmten Wahn, der am besten beschrieben wird durch das Wort Patriotismus, der aber in Wirklichkeit Mord ist".

Unter dem Eindruck der russischen Revolution kam es vor allem 1919 in den USA zu einer Reihe von Bombenanschlägen durch Anarchisten. Auf der Grundlage des "Espionage Act" wurden daraufhin mehrere hundert politisch verdächtige Einwanderer nach Russland deportiert.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden nur wenige Menschen wegen Verstößen gegen den "Espionage Act" angeklagt. Anlässe waren etwa die Verteilung von Flugblättern gegen die Beteiligung der USA am Krieg gegen Hitler.

Ab den späten 1940er Jahren wurde das Gesetz dann auf eine Reihe von Personen angewandt, die für die Sowjetunion und später für Russland spioniert und Geheimnisse verraten haben sollen. Der prominenteste Fall betraf 1950 das Ehepaar Ethel und Julius Rosenberg, die hingerichtet wurden, weil sie der Sowjetunion Informationen über die Entwicklung der Atombomben in den USA weitergereicht hatten.

Julius und Ethel Rosenberg vor 50 Jahren hingerichtet

Julius und Ethel Rosenberg wurden 1953 wegen Verrats von Informationen über die US-Atombombe an die Sowjets hingerichtet.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Zwei weitere verurteilte Spione waren der CIA-Agent Aldrich Ames und der FBI-Agent Robert Hanssen. Einer der jüngsten Fälle, in denen das Gesetz angewandt wurde, war 2012 James Hitselberger, ein Sprachexperte bei der Navy, der wegen Verstößen gegen den "Espionage Act" angeklagt, nach einem Deal mit der Staatsanwaltschaft aber nicht verurteilt wurde.

Whistleblower decken Lügen der US-Regierung auf

Das erste Mal, dass der "Espionage Act" gegen Whistleblower angewandt wurde, war 1971 - obwohl die Angeklagten nicht Informationen an ausländische Mächte verraten hatten, sondern die Öffentlichkeit über geheime Machenschaften der US-Politik informieren wollten: Der Militäranalyst Daniel Ellsberg kopierte gemeinsam mit Anthony Russo die sogenannten Pentagon Papers und überließ sie der New York Times, der Washington Post und weiteren Zeitungen.

Als Whistleblower hatte Ellsberg sich entschieden, die Papiere illegal zu veröffentlichen - ein Akt zivilen Ungehorsams.

Die geleakten Dokumente belegten, dass die US-Regierung die Bevölkerung seit Jahren über den Vietnamkrieg belogen hatte. Der Prozess gegen beide Männer wurde abgebrochen, nachdem bekannt geworden war, dass die Staatsanwaltschaft sich auf unrechtmäßige Weise Informationen über Ellsberg beschafft hatte.

Ebenfalls als Whistleblower angeklagt und verurteilt wurde 1985 der Mitarbeiter des Naval Intelligence Support Centers (NICS) Samuel Loring Morison. Er hatte das Fachmagazine Jane's mit geheimen Informationen über sowjetische Kriegsschiffe versorgt - eigenen Aussagen zufolge, um den Menschen zu zeigen, welche Fortschritte die sowjetische Rüstung machte. Er wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.

2006 wurde Lawrence Franklin, ein ehemaliger Angestellter des Verteidigungsministeriums, verurteilt wegen der Weitergabe von Informationen über die Iran-Politik der USA an Pro-Israel-Lobbyisten. Die anfänglich festgelegte langjährige Haftstrafe wurde auf zehn Monate Hausarrest herabgesetzt.

Besonders Obama ging gegen Whistleblower vor

Bevor Barack Obama US-Präsident wurde, gab es also drei Fälle, in denen Whistleblower unter dem "Espionage Act" angeklagt wurden. Nach seiner Ernennung kamen sieben weitere hinzu - obwohl Obama 2012 den "Whistleblower Enhancement Protection Act" unterzeichnete, der es Regierungsangestellten ermöglichen sollte, ohne Probleme über Verstöße zu berichten. In den Sicherheitsbehörden müssen sie sich allerdings an ihre Vorgesetzten wenden, sie haben nicht die Möglichkeit, sich bei jemandem von außen zu beschweren.

Der erste Whistleblower, der unter Obama gemäß dem "Espionage Act" angeklagt wurde, war 2010 der ehemalige NSA-Mitarbeiter Thomas Andrews Drake. Bereits 2007 hatte das FBI begonnen, gegen ihn zu ermitteln. Drake soll Informationen über ein überteuertes und gescheitertes NSA-Programm zur Überwachung der Kommunikation an die Presse geleakt haben. 2011 wurden die Vorwürfe fallengelassen - auch weil die Regierung befürchtete, dass während des Prozesses weitere geheime Unterlagen öffentlich werden könnten.

Gegen vier weitere Whistleblower wurden 2010 Vorwürfe gemäß des "Espionage Acts" erhoben. Der prominenteste Fall war Chelsea Manning (geboren als Bradley Manning). Manning hatte als Soldat Hunderttausende von teils geheimen Dokumenten an WikiLeaks übergeben - darunter Berichte aus US-Botschaften und dem Außenministerium sowie Videomaterial, das einen Angriff von US-Hubschraubern in Bagdad 2007 auf Zivilisten zeigt. Unter den Opfern waren zwei Angestellte der Nachrichtenagentur Reuters.

Nachdem ein Blogger, bei dem sich Manning seelische Unterstützung holen wollte, das FBI informiert hatte, wurde sie 2010 verhaftet. 2013 wurde sie zu 35 Jahren Haft verurteilt. Im Januar 2017 verkündete US-Präsident Barack Obama einen Straferlass - keinen Gnadenerlass - dank dem Manning im Mai 2017 freikam.

Stephen Jin-Woo Kim, Mitarbeiter des Außenministeriums, hatte geheime Informationen über einen bevorstehenden Atomwaffentest von Nordkorea an einen Fox-News-Reporter gegeben (13 Monate Haft). Shamai Leibowitz wies einen Journalisten auf illegale Praktiken beim FBI hin, nachdem seine Vorgesetzten nicht auf ihn gehört hatten (20 Monate Haft). Dem Ex-CIA-Mitarbeiter Jeffrey Alexander Sterling wurde vorgeworfen, Journalisten geheime Details über die "Operation Merlin" überlassen zu haben, mit der die Clinton-Regierung Iran mit fehlerhaften Bauplänen für Nuklearwaffen versorgen wollte. 2015 wurde er zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

2012 wurde der ehemalige CIA-Analyst John Kiriakou angeklagt, geheime Informationen an Journalisten gegeben zu haben. Kiriakou hatte offengelegt, dass die CIA Terrorverdächtige mittels Waterboarding folterte. Dabei hatte er auch die Identität von zwei anderen Agenten preisgegeben. Er wurde zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt.

2013 wurde Edward Snowden angeklagt, geheime Informationen über die Landesverteidigung weitergegeben zu haben. Während seiner Arbeit für die CIA hatte Snowden festgestellt, dass die US-Geheimdienste, zusammen mit Behörden anderer Länder, effektiv Programme zur Massenüberwachung von E-Mails und Mobiltelefonen im Ausland, aber auch in den USA selbst einsetzen. Er nahm Kontakt mit Journalisten auf, floh nach Hongkong und später Russland, und veröffentlichte Dokumente, die die Massenüberwachung belegen.

Als erster Whistleblower-Fall unter Präsident Donald Trump wird nun Reality Winner in die Geschichte des "Espionage Act" eingehen. Zu ihren Motiven ist noch nichts öffentlich, bekannt ist aber, dass sie Trump als Präsident ablehnt - was zu ihrer Tat passen würde. Die geleakten Dokumente sind ein weiterer Hinweis auf russische Versuche, die US-Wahl manipuliert zu haben.

Ob der "Espionage Act" das richtige Gesetz ist, um gegen Whistleblower vorzugehen, ist umstritten. Schließlich unterscheiden sich die "Täter" von Spionen dadurch, dass sie die Öffentlichkeit informieren wollen, und nicht im Interesse einer fremden Macht oder gar eines Kriegsgegners handeln.

Natürlich können ausländische Staaten von manchen Leaks profitieren - im Fall Snowden etwa weil sie etwas gegen die Überwachung durch amerikanische und britische Geheimdienste unternehmen können.

Whistleblower verstehen ihr Handeln aber als einen Akt der Aufklärung über illegale oder unmoralische Machenschaften - bei Snowden etwa das Vorgehen von unzureichend kontrollierten Sicherheitsdiensten, die selbst die Rechte der Bevölkerung missachten. Sie müssen sich entscheiden, ob sie gegen Gesetze verstoßen, um rechtswidrige Zustände bekannt zu machen.

Die Frage, wann ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist, ist nicht immer leicht zu beantworten. Wenn aber Paragraphen Personen und Behörden schützen, die selbst im großen Stil illegal handeln, sollten vielleicht die Gesetze geändert werden. Vor allem wenn sie schon 100 Jahre alt sind.

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