USA: Lügenvorwurf:"Joe for President"

Seit er dem Präsident im Kongress "You lie" zurief, avanciert Joe Wilson zur Galionsfigur des Kreuzzug der Konservativen gegen Obamas Gesundheitsreform. Ein Ex-Präsident wittert Rassismus.

W. Jaschensky

Es kommt nicht oft vor, dass das Repräsentantenhaus so schnell reagiert. Sechs Tage dauerte es, bis das House mit seiner demokratischen Mehrheit den Zwischenruf des Republikaners Joe Wilson in einer Resolution offiziell missbilligte.

Barack Obama, Joe Wilson, Gesundheitsreform, dpa

Das dominierende Schema der Anti-Obama-Propaganda: Die Dämonisierung des Präsidenten.

(Foto: Foto: dpa)

"You lie" - "Sie lügen!", rief Wilson von seinem Sitzplatz dem US-Präsidenten zu, als dieser vor dem Hohen Haus für seine Gesundheitsreform warb. Der Zwischenruf war ein Eklat, wie ihn der ehrwürdige Kongress lange nicht erlebt hatte. "Kein Präsident wurde je so behandelt", klagte Obamas Stabschef Rahm Emanuel.

Noch schneller als die Missbilligung des Repräsentantenhauses folgte die Reaktion der konservativen Amerikaner: Über Nacht wurde aus Joe Wilson, dem unbekannten und unscheinbaren Abgeordneten aus South Carolina, ihre Galionsfigur, ihr Held.

Kein Thema bewegt die Menschen in den USA derzeit so wie Obamas Vorhaben, das marode Gesundheitssystem grundlegend zu reformieren. Bei Kundgebungen und Demonstrationen, im Fernsehen und in Internetforen fliegen zwischen Linken und Rechten die Fetzen. Es geht um Versicherungspflicht, öffentliche Ersatzkassen, Mindeststandards. Dahinter aber steht die größere Frage: Wie solidarisch will diese Nation sein, die sich rühmt, die größte auf Erden zu sein?

Fast 50 Millionen Menschen leben derzeit in den USA ohne Krankenversicherung. Jedes Jahr sterben Tausende, weil sie den Weg zum Arzt scheuen - aus Angst, professionelle Hilfe könnte sie finanziell ruinieren.

Dennoch formiert sich landesweit eine Bewegung, die jegliche Form staatlicher Einmischung im Gesundheitssektor ablehnt und als sozialistische Bedrohung geißelt. Der Kampf um die Gesundheitsreform könnte entscheidend sein für den Erfolg der Präsidentschaft Obamas.

Als die Gegner der Gesundheitsreform im August quer durch die USA zu Zehntausenden auf die Straße gingen, dominierte ein Schema die politische Propaganda: Die Dämonisierung Obamas. In den freundlichen Darstellungen wurde Obama als Sozialist bezeichnet, doch selbst vor Vergleichen mit Stalin und Hitler machten die radikalen Reformgegner nicht halt.

Mit Joe "You lie!" Wilson hat der Protest nun ein Gesicht bekommen. Auf Facebook haben sich bereits mehrere Wilson-Fangruppen gegründet. Motto: "Joe Wilson for President". Demonstranten tragen T-Shirts, Anstecker, Mützen und Plakate mit der Aufschrift "Joe hatte recht", "Joe steht für mich" oder schlicht "Joe 2012".

Eric Odom, Leiter der Lobby-Gruppe American Liberty Alliance, berichtet, dass allein die Nennung des Namens die Menschen auf Kundgebungen zu Jubelstürmen hinreißt. "Ich kenne keinen in der Bewegung, der gegen ihn ist, oder gegen das, was er gesagt hat", sagte Odom dem Online-Politmagazin Politico.

"Weil er ein Schwarzer ist"

Zu den erklärten Wilson-Fans gehört auch Rush Limbaugh. Der Radiomoderator ist die Stimme des konservativen Amerika. 600 Radiostationen übertragen seine dreistündige Show landesweit, mehr als 15 Millionen Hörer machen ihn zum erfolgreichsten Talkshow-Moderator der USA. "Joe Wilson hat einfach das gesagt, was Millionen Amerikaner gedacht haben", erklärte Limbaugh nach dem Zwischenfall. Und: "Joe Wilson soll der Wegweiser sein für alle auf unserer Seite."

Doch was heißt "unsere Seite"? Wilsons Zwischenruf, die Begeisterung darüber und die offene Feindseligkeit gegen Obama beruhen, so glauben inzwischen viele Amerikaner, nicht nur auf der Ablehnung seiner Gesundheitsreform, sondern schlicht auf Rassismus. In Teddy Roosevelt, Harry Truman und Bill Clinton haben sich schon große Präsidenten vergeblich um eine Reform des Gesundheitssystems bemüht, ohne jedoch jemals auf vergleichbaren Hass zu stoßen.

"Manche Menschen können einfach nicht glauben, dass ein Schwarzer Präsident ist und werden es nie akzeptieren", schrieb die Pulitzer-Preisträgerin Maureen Dowd in einer New-York-Times-Kolumne nach dem Wilson-Eklat. Washington-Post-Kolumnist Eugene Robinson äußerte sich ähnlich: Manche Kritiker glaubten, die Hautfarbe des Präsidenten gebe ihnen das Recht, ihm seine Legitimität abzusprechen.

Mit dem demokratischen Ex-Präsidenten Jimmy Carter schloss sich dieser Einschätzung nun erstmals auch ein prominenter Politiker öffentlich an: "Ich glaube, dass der überwältigende Teil der Feindseligkeit gegen Präsident Barack Obama auf der Tatsache beruht, dass er ein Schwarzer ist." Der Hang zum Rassismus bestehe noch immer und trete nun zu Tage, weil viele Weiße glaubten, Afroamerikaner seien nicht dafür qualifiziert, Amerika zu führen, sagte Carter in einem Interview mit NBC.

Der Präsident selbst schweigt zu der Frage bislang - und wird dies wohl auch weiter tun. Erst im Juli machte Obama schlechte Erfahrungen mit Äußerungen zur Rassenproblematik. Seiner Kritik an einem Polizisten, der einen afroamerikanischen Harvard-Professor festnahm, als dieser versuchte, sein Haus aufzusperren, folgten heftige Proteste. Obama sah sich genötigt, sich für seine Worte zu entschuldigen.

Obamas Hoffnung ist, die gemäßigte Rechte durch moderates Auftreten, überzeugende Reden und Zugeständnisse auf seine Seite zu ziehen. Nur so kann er sein Prestigeprojekt retten. Eine Debatte über die Rassenfrage hilft ihm dabei nicht.

Deshalb dauerte es nicht lange, bis demokratische Senatoren Carter widersprachen. "Er ist ein ehemaliger Präsident und darf seine Meinung haben. Ich persönlich glaube, das Präsident Obama und seine Regierung sich auf Inhalte konzentrieren. Dem kann ich nur zustimmen", sagte Dick Durbin, Senator aus Illinois. Jim Webb, Senator aus Virginia pflichtet bei: "Ich sehe das nicht als Rassenfrage."

Obama selbst ließ derweil nur über seinen Pressesprecher ausrichten: "Der Präsident glaubt nicht, dass die Kritik auf der Frage der Hautfarbe basiert."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: