Noch ist Joe Biden der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, auch wenn das manch einer womöglich schon fast vergessen hat. Für Biden ist das G-20-Treffen, das gerade in Rio de Janeiro begonnen hat, wohl sein letzter Auftritt bei einem internationalen Gipfel. Es geht dort also auch um sein Vermächtnis. Und selbstverständlich ist die außenpolitische Überraschung, die er nun nach Rio mitgebracht hat, auch im Lichte des anstehenden Machtwechsels in Washington zu bewerten. Die scheidende Biden-Administration und die sich bereits im Eilverfahren formierende Trump-Regierung existieren in den kommenden zwei Monaten parallel nebeneinander. Joe Biden ist offenbar nicht gewillt, seinem Vorgänger und Nachfolger Donald Trump bereits de facto die Geschäfte zu überlassen. Er will ein Zeichen setzen und Fakten schaffen. Wohl auch deshalb hat er sich in seinen letzten Tagen im Amt noch zu einer signifikanten Kursänderung in seiner Ukraine-Politik entschlossen.
Die Ukraine darf ab sofort US-amerikanische Waffen mit größerer Reichweite auch gegen Ziele einsetzen, die sich tief im russischen Staatsgebiet befinden. Offenbar wurde das der Regierung in Kiew schon vor einigen Tagen mitgeteilt, aber es wurde erst am Sonntag durch einen Bericht der New York Times öffentlich bekannt. Ein Sprecher des Weißen Hauses bestätigte später am Nachmittag, dass die betreffenden Beschränkungen für sogenannte ATACMS-Raketen aufgehoben worden seien, allerdings ohne weitere Details der neuen Vereinbarung zu nennen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hatte seit Monaten auf eine solche Erlaubnis gedrängt.
Bidens überraschender Meinungsumschwung dürfte sowohl mit dem Ausgang der Wahl in den USA als auch mit den Vorgängen an der russisch-ukrainischen Front zusammenhängen. Mehrere US-Medien berichten unter Berufung auf Regierungskreise, die Erlaubnis für die ATACMS-Raketen beziehe sich ausschließlich auf den Einsatz gegen russische und nordkoreanische Truppen in der Region Kursk. Die ukrainische Armee hält dort Teile russischen Territoriums besetzt, mit der Unterstützung von Tausenden Soldaten aus Nordkorea versucht Moskau gerade, diese Gebiete zurückzuerobern.
Bidens Entscheidung ruft bei den Republikanern Entrüstung hervor
Bereits im Mai dieses Jahres hatte das Weiße Haus der Ukraine den Einsatz von ATACMS-Raketen genehmigt, allerdings streng limitiert für Einsätze direkt an der russischen Grenze. Bidens Beschluss, die Beschränkungen nun aufzuheben, dürfte also eine Reaktion darauf sein, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg durch die aktive Einbeziehung Nordkoreas eskaliert hat. Joe Biden geht damit allerdings auch ein Wagnis ein, das er bislang nicht einzugehen bereit war. Denn Putin hat immer wieder klargemacht, dass er eine Freigabe weitreichender Waffen seinerseits als eine Eskalation des Krieges begreifen werde.
Bidens Entscheidung hat aufseiten der Republikaner die erwartbare Entrüstung hervorgerufen, allerdings mit zwei ganz unterschiedlichen Stoßrichtungen. Einige republikanische Abgeordnete der alten Schule wie beispielsweise der Geheimdienstexperte Mike Turner aus Ohio kritisierten den US-Präsidenten dafür, dass seine Entscheidung viel zu spät komme und die Ukraine wertvolle Zeit verloren habe, weil Biden nicht früher auf Selenskij gehört habe. Vertreter der radikalen Maga-Bewegung unter den Republikanern verurteilten Biden dagegen, weil er auf Selenskijs eingegangen ist.
Trumps ältester und zunehmend einflussreicher Sohn Donald Trump Jr. schrieb auf X: „Der militärisch industrielle Komplex scheint sicherstellen zu wollen, dass er einen dritten Weltkrieg bekommt, bevor mein Vater die Chance hat, Frieden zu schaffen und Leben zu retten.“ Auch die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene und Richard Grenell, der frühere US-Botschafter in Berlin, hielten Biden vor, auf seinem Weg aus dem Amt heraus einen dritten Weltkrieg starten zu wollen.
Die Reaktionen werfen also auch ein Schlaglicht auf die tiefen Gräben innerhalb der Republikanischen Partei, gerade was die außenpolitischen Grundprinzipien betrifft. Da stehen auf der einen Seite die Isolationisten des Maga-Flügels mit ihrem bedingungslosen „America First“ und auf der anderen Seite – wie politische Gegner – die Traditionalisten, die Amerikas Führungsrolle in der Welt erhalten wollen. An dieser Stelle dürfte sich bereits eine der Zerreißproben der kommenden vier Jahre anbahnen. Trumps designierter Außenminister Marco Rubio hat seinen Job wohl auch deshalb erhalten, weil er unlängst zu den Isolationisten – also zu Trump – konvertierte. Reuige Sünder mag der Boss am liebsten.
Biden will offenbar die Verhandlungsposition Kiews stärken
Donald Trump hat die milliardenschwere US-Hilfe für die Ukraine stets infrage gestellt und im Wahlkampf immer wieder angekündigt, er werde den Krieg in der Ukraine binnen 24 Stunden beenden. Allerdings ohne je zu konkretisieren, wie er das anzustellen gedenkt. Sein Plan, den bisherigen Fox-News-Moderator Pete Hegseth zum Verteidigungsminister zu machen, lässt jedoch nichts Gutes für die Ukraine erahnen. Verglichen mit Hegseth gelten die Hardliner Marco Rubio und Mike Waltz, der Trumps Nationaler Sicherheitsberater wird, fast noch als Stimmen der Vernunft im künftigen Trump-Kabinett. Bidens Kehrtwende vom Sonntag könnte also auch ein Versuch sein, den Schaden für die Ukraine zu begrenzen, solange er dazu noch in der Lage ist.
Offenbar hofft das Weiße Haus darauf, mit der Erlaubnis des Einsatzes von ATACMS-Raketen Kiews Verhandlungsposition bei etwaigen Gesprächen über eine Waffenruhe zu verbessern. Außerdem geht es wohl darum, der Ukraine dabei zu helfen, die Region Kursk gegen den Vormarsch der russischen und nordkoreanischen Truppen so lange wie möglich zu verteidigen. Eine ukrainisch besetzte Zone auf russischem Staatsgebiet könnte eine wichtige Verhandlungsmasse sein, wenn Donald Trump demnächst beide Seiten zu einem Deal drängt.