Süddeutsche Zeitung

Demokraten:Weiblich, erfahren, möglichst multikulti

Die Rassismus-Debatte dürfte mit entscheiden, wen Joe Biden als potenzielle Vizepräsidentin auswählt. Fest steht: Der Posten bekommt in diesen Wochen mehr Gewicht denn je - und die Schar der Anwärterinnen wächst.

Von Reymer Klüver

Eines steht schon fest: Wenn es Joe Biden schaffen sollte, die Wahl im November zu gewinnen und Donald Trump aus dem Weißen Haus zu vertreiben, dann wird in das Büro des Vizepräsidenten im Westflügel eine Frau einziehen. Der demokratische Präsidentschaftskandidat hatte schon vor Monaten versprochen, dass er keinen Mann als seinen Stellvertreter will.

Immer wieder hat er auch betont, dass sein Vize "vom ersten Tag an" bereit sein müsse, selbst den Job im Weißen Haus zu übernehmen - ein kaum verhüllter Hinweis auf das hohe Alter des Kandidaten. Mit 77 Jahren wäre Biden der älteste Mann, der jemals zum Präsident gewählt werden würde. Das wurde von vielen Beobachtern so verstanden, dass die Frau an Bidens Seite eine Generation jünger sein dürfte als er selbst.

Und noch eine weitere Anforderung an das Kandidatinnen-Profil hat mit der Zeit an Bedeutung gewonnen. Die künftige Vizepräsidentin sollte, wie es im politischen Jargon der Demokraten heißt, die multikulturelle Vielfalt der Vereinigten Staaten widerspiegeln. Mit einem Wort: Sie sollte eine Afroamerikanerin sein oder eine Latina. Das ist in den vergangenen Wochen noch wichtiger geworden, seitdem die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt das Land zerreißen - und wohl auch die politischen Kalkulationen in Bidens Wahlkampfteam durcheinanderwirbeln.

Etwa ein Dutzend Frauen steht offenbar auf Bidens Liste. In den letzten Tagen aber sind zwei Namen sehr weit nach oben gerückt, die bisher eher unter "ferner liefen" aufgeführt wurden: die demokratische Kongressabgeordnete Val Demings aus Florida und die Bürgermeisterin der Millionenmetropole Atlanta, Keisha Lance Bottoms. Beide sind deutlich jünger als der Kandidat, sie sind schwarze Frauen, linksliberal, vor allem aber haben sie seit Jahren persönliche und politische Erfahrung mit der Frage, die Amerika nun seit Wochen umtreibt: Wie umgehen mit der offenkundig rassistischen Staatsgewalt?

Demings, 63, war Polizeipräsidentin in der Millionenstadt Orlando, ehe sie in die Politik ging. Die Anwältin Bottoms, noch einmal einige Jahre jünger, hat sich einen Ruf als unerschrockene Kommunalpolitikerin erworben. Sie kritisierte Trump für dessen laxe Corona-Politik und erneut in den Tagen nach dem Tod George Floyds, als sie dem Präsidenten vorwarf, "die Sache nur noch schlimmer" zu machen. Tatsächlich war es ihr gelungen, die Lage in der Stadt nach ersten Unruhen zu beruhigen. "Wenn ihr was verändern wollt, dann geht wählen", rief sie Demonstranten bei einer Pressekonferenz zu. Das konservative Wirtschaftsmagazin Forbes lobte sie als "die Bürgermeisterin, die Amerika jetzt braucht".

Biden lässt sich Zeit

Eines ist bei der Auswahl von Vizepräsidentenkandidaten in den USA immer von immenser Relevanz, egal ob auf Seiten der Demokraten oder der Republikaner: die Herkunft des künftigen Stellvertreters. Genauer gesagt die Frage: Können sie dem Kandidaten helfen, in Bundesstaaten zu gewinnen, in denen es knapp werden wird oder die sonst sogar außer Reichweite wären? Auch in dieser Hinsicht dürften beide Frauen für Biden von enormer Bedeutung sein. Demings könnte Biden helfen, im swing state Florida die Stimmen der Schwarzen zu mobilisieren. Trump hatte in Florida 2016 nur knapp gewonnen. Auch das bisher republikanische Georgia könnte mit einer Vizepräsidentschaftskandidatin Bottoms zum swing state werden.

Doch weil eben so viele Erwägungen bei der Auswahl eine Rolle spielen, ist das Rennen längst nicht entschieden. Nach wie vor sehr weit oben auf der Liste dürfte immer noch Kamala Harris stehen, die Senatorin aus Kalifornien. Sie war selbst Staatsanwältin und Justizministerin in ihrem Bundesstaat und hat von allen Kandidatinnen am meisten Regierungserfahrung. Genannt werden auch die Gouverneurinnen von New Mexico, Michelle Lujan Grisham, eine Latina, und Gretchen Whitmer aus Michigan, die sich in den vergangenen Monaten öffentliche Scharmützel mit Präsident Trump in der Frage des richtigen Umgangs mit der Pandemie geliefert hat. Sie ist zwar weiß, Michigan ist allerdings einer der Bundesstaaten, die Biden unbedingt gewinnen müsste.

In der engeren Auswahl steht wohl auch noch Susan Rice, die furchtlose UN-Botschafterin unter Präsident Barack Obama. Sie hat allerdings keinerlei innenpolitische Erfahrung. Noch immer genannt wird ebenfalls Elizabeth Warren, die Senatorin aus Massachusetts. Die Parteilinke ist zwar weiß (wenn auch mit entfernten indianischen Vorfahren) und nicht sehr viel jünger als Biden, hätte aber den politischen Vorzug, dass sie am ehesten die enttäuschten Anhänger Bernie Sanders' für die Wahl mobilisieren könnte.

Noch ist eine Entscheidung nicht gefallen. Biden lässt sich Zeit. Er will die Frau an seiner Seite erst Anfang August präsentieren.

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SZ vom 16.06.2020/dit/stein
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