Süddeutsche Zeitung

US-Automobilindustrie:Letzte Ausfahrt Hoffnung

In Lordstown im US-Rostgürtel legt General Motors nach 53 Jahren das Werk still. Jetzt droht die Gemeinde eine Geisterstadt zu werden. Über den Verlust der Identität - und was das für Präsident Trump bedeuten könnte.

Reportage von Alan Cassidy, Lordstown

Es ist nicht ganz leicht zu sagen, wo in Lordstown die Gemeinde aufhört und wo das Autowerk beginnt. Man merkt das am Wandteppich, der im Büro von Bürgermeister Arno Hill hängt. Darauf sind alle Automodelle abgebildet, die General Motors über die Jahrzehnte in der Fabrik gebaut hat. Pontiac Firebird, Chevrolet Cavalier, Chevrolet Cobalt, seit 2011: Chevrolet Cruze. Dieses Auto meint der Bürgermeister, wenn er sagt: "Wir machen hier ein tolles Produkt."

Wir, das sind die Einwohner und die Fabrikarbeiter, wir ist die Firma, mit der sich hier alle identifizieren. Auf dem Fabrikgelände am Ortsrand errichtete die Gemeinde ein Schild, auf dem steht: "Lordstown gratuliert General Motors zum Erfolg des Cruze."

Der Cruze ist eine kompakte Limousine mit Stufenheck, und ein Erfolg ist er seit einiger Zeit nicht mehr. Die Amerikaner kaufen lieber große SUV und Pick-up-Trucks, der Benzinpreis ist tief. Nicht einmal in Lordstown sieht man den Cruze allzuoft auf der Straße. Das Modell würde also nicht mehr ewig produziert - das war hier allen klar.

"Im Januar 2017 strichen sie die erste Schicht, 1 500 Arbeiter"

Auch Dave Green, 48. Er stand erstmals vor 30 Jahren am Fließband. Heute präsidiert er die lokale Sektion der United Auto Workers, der Gewerkschaft der Autoindustrie. In seinem Büro im Gewerkschaftslokal gegenüber der Autofabrik blickt Green, roter Pullover, Bürstenschnitt, Kinnbart, auf die alten Kalender an der Wand und zählt auf: "Im Januar 2017 strichen sie die erste Schicht, 1 500 Arbeiter. Im April 2018 die zweite, noch einmal 1 500 Leute."

Dann aber kamen der 26. November und eine Nachrichten, die auch Green nicht erwartet hätte. Am 26. November gab die Konzernleitung von General Motors bekannt, dass sie die Autofertigung in Lordstown und in zwei weiteren Werken komplett einstellen werde. Die Zukunft der 1 500 Mitarbeiter: offen. Green erhielt die Information eine Viertelstunde vorab. "Danach zog ich durch die Halle und tröstete die Leute. Ich sah viele weiße Gesichter, einige sahen aus, als würden sie gleich umkippen. Manche weinten."

In der Sprachregelung von General Motors ist das Werk nicht geschlossen, sondern lediglich "unallocated", nicht zugewiesen. Was die Formulierung genau bedeutet, weiß niemand in Lordstown. "Da hat ein Firmenanwalt viel Geld erhalten, um auf diesen Begriff zu kommen", sagt Green. Er lacht kurz auf, es ist ein bitteres Lachen. Klar ist nur, dass spätestens Mitte März der letzte Cruze vom Fließband laufen wird. Danach wird General Motors in Lordstown entweder ein anderes Fahrzeugmodell bauen lassen - oder das Werk definitiv stilllegen.

Schließt die Fabrik für immer, wäre es das Ende einer langen Geschichte, auf die in dieser darbenden Ecke im Nordosten Ohios alle stolz sind. 53 Jahre lang wurden hier Autos gefertigt, 53 Jahre war die Fabrik das Zentrum des wirtschaftlichen Lebens im Ort und in der Umgebung, 53 Jahre schuf sie das Gefühl einer Gemeinschaft: "General Motors und Lordstown", sagt Green, "das ist wie eine Familie". Und das soll nun vorbei sein? Fast jeder der knapp 4000 Einwohner hat eine Verbindung zu General Motors, entweder, weil er oder sie selbst im Werk arbeitet oder in einem der Zulieferbetriebe, die zum Beispiel die Sitze für die Autos herstellen.

Aber wie es nächstes Jahr weitergeht?

Das gilt auch für den Bürgermeister. Arno Hill war früher Werkzeugmacher bei einer General-Motors-Tochterfirma. Jetzt sitzt der 66jährige, bullige Republikaner in seinem Büro in einem Sessel aus Kunstleder, neben dem Wandteppich mit den Automodellen und einem Sternenbanner in der Ecke. Hill hat aufreibende Wochen hinter sich. "40 Prozent unserer Steuereinnahmen stammen von General Motors. Die fallen nun weg", sagt er. 2019 werde man noch klarkommen. "Wir haben in den guten Jahren Reserven gebildet, wir haben keine Schulden." Aber wie es nächstes Jahr weitergeht? "Wir wissen es nicht."

Was in Lordstown droht, haben andere Orte in Amerikas Rostgürtel schon vor längerer Zeit durchgemacht. Die Ankündigung von General Motors vom 26. November, einem Montag, erinnerte viele an einen anderen Montag im Herbst 1977, als im benachbarten Youngstown das größte Stahlwerk dichtmachte. Alle hier kennen das Datum als "Black Monday". Danach verschwand ein Stahlwerk nach dem anderen, Tausende Jobs gingen verloren. Lediglich das Werk von General Motors in Lordstown sorgte für ein bisschen Sicherheit - umso größer ist nun die Enttäuschung. "Die Leute fühlen sich von General Motors verraten", sagt Hill, "und ich kann das nachvollziehen".

Doch in Lordstown wollen sie den Niedergang nicht einfach hinnehmen. Sie wollen kämpfen. Denn neben der Wut sei da auch Hoffnung, sagt Hill. Die Hoffnung, dass der Konzern sich dazu entschließe, in Lordstown ein anderes Automodell fertigen zu lassen. Einen der beiden SUVs, die General Motors heute in Südkorea bauen lässt. Oder eines der elektrischen Modelle, die für die kommenden Jahre geplant sind. "Irgendetwas brauchen wir."

Um Druck auf General Motors zu erzeugen, haben sich die Gemeinde, die Gewerkschaft und die lokale Handelskammer zusammengetan und eine Imagekampagne lanciert. Sie heißt "Drive It Home". Die Botschaft: Gebt das Werk nicht auf, gebt Lordstown nicht auf. "Die Arbeiter hier können jedes Auto bauen", sagt Gewerkschafter Green. Zum einen sei das Werk erst vor wenigen Jahren modernisiert worden. Zum anderen gebe es keine Gemeinschaft, die sich so sehr mit einem Unternehmen identifiziere wie die Leute in Lordstown. "Wenn wir das den Chefs in Detroit klarmachen können, haben wir eine Chance."

Unterstützt wird die Kampagne von den Abgeordneten des Bundesstaats Ohio im Kongress. "Aus beiden Parteien", betont Green, der selber Demokrat ist, "wann gibt es das heute noch?" Unterstützt wird die Kampagne aber vor allem von den Einwohnern. Kürzlich schrieben Schüler Briefe an Mary Barra, die Chefin von General Motors. Einige davon hängen im Gewerkschaftslokal. "Dear Mary", steht da im Brief einer High-School-Schülerin, "meine Mutter arbeitet seit 27 Jahren in der Fabrik. Jetzt überlegen sich meine Eltern, ihr Leben auf den Kopf zu stellen und wegzuziehen." Eine andere Schülerin schreibt an Barra: "Stellen Sie sich vor, wie viele Leben zerstört und wie viele Familien auseinandergerissen werden."

Green führt jetzt durch den Versammlungsraum des Gewerkschaftslokals, ein Kühlschrank mit Bier in der einen Ecke, ein Podest mit Baseball-Trophäen der Werksmannschaft in der anderen, und an der Wand ein Bild von Barack Obama, das ihn dabei zeigt, wie er zu den Arbeitern von Lordstown spricht. Der Präsident besuchte die Fabrik im Herbst 2009, nachdem die US-Regierung General Motors vor dem Bankrott gerettet hatte. Kurz darauf erhielt der Konzern einen von vielen weiteren Steuerrabatten. "Sie gaben uns damals das Versprechen, Lordstown für mindestens 30 Jahre weiterzubetreiben", sagt Green. "Daran erinnern wir sie jetzt."

Auch Donald Trump machte den Einwohnern der Gegend ein Versprechen. "Verkauft eure Häuser nicht, zieht nicht weg", sagte er 2017, als er schon Präsident war, vor Anhängern in Youngstown. "Die Fabrikjobs werden alle zurückkehren." Sie kehrten natürlich nicht zurück, und Green ist nicht sicher, ob Trump seinen Erfolg von 2016 wiederholen wird: die Mehrheit in diesem Bezirk, der traditionell demokratisch wählt. "Wenn er das nächste Mal hier durchkommt und wir keine Autos mehr bauen, werden die Leute eine andere Meinung von ihm haben."

Der Bürgermeister verteidigt den Präsidenten - aber wie lange noch?

Bürgermeister Hill, der 2016 Trump wählte, sieht das ein wenig anders. "Der Präsident hat zu viel auf dem Teller, als dass er sich um alles kümmern könnte", sagt er. Für seine bisherige Arbeit würde er Trump eine gute Note geben: "Andernorts wächst die Wirtschaft, bei uns dauert das halt immer etwas länger." Aber er hoffe sehr, dass sich Trump bei General Motors für die Zukunft des Werks einsetze. Ende November, als der Konzern seine Ankündigung machte, hatte Trump dem Management öffentlich gedroht, Steuergutschriften für Elektroautos zu streichen. Doch seither haben sie in Lordstown nichts mehr vom Präsidenten gehört.

Einfach nur warten wollen Green und Hill nicht. Vergangene Woche reisten sie zur Automesse nach Detroit, wo sie sich mit Vertretern von General Motors trafen. Auch der Gouverneur von Ohio warb dort bei Konzernchefin Barra für die Fortsetzung der Produktion mit einem neuen Auto, und er bot die Unterstützung des Bundesstaates an. Eine Zusage gab Barra nicht. Bevor man darüber entscheide, ob man ein neues Modell an Lordstown vergebe, müsse man erst die Auslastung an anderen Produktionsstandorten in den USA erhöhen, sagte sie vor Journalisten.

Warten wollen auch viele Einwohner nicht. "Sie können es sich nicht leisten", sagt Amanda Mazurkiewicz, 38, die in einem der drei Restaurants im Dorf arbeitet, einem freundlichen Imbiss, wo der Kaffee dünn und die Portion des Frühstücksmenüs riesig ist. "Viele meiner Freunde ziehen weg." Der Wert der Häuser sei bereits gesunken. "Und wir haben Angst, dass die Schule kein Geld mehr haben wird, wenn die Steuereinnahmen von General Motors nicht mehr da sind."

Kunden bleiben aus, das spüren die Restaurants und die wenigen Geschäfte im Ort, die Tankstelle, die Bank, die Sandwich-Bude. "Kauft zu Hause", forderte Bürgermeister Hill im Mitteilungsblatt der Gemeinde. "Lasst uns keine Geisterstadt werden." Ob sich das noch abwenden lässt? In Lordstown hoffen sie. Doch es liegt nicht mehr in ihrer Hand.

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Quelle:
SZ vom 26.01.2019
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