Süddeutsche Zeitung

USA:Wo Menschen sterben, weil Medikamente zu teuer sind

  • In keinem Industrieland kosten rezeptpflichtige Arzneien mehr als in den USA.
  • Menschen in den Staaten rationieren ihre Medikamente, um Kosten zu sparen. Nicht alle überleben das.
  • Die Versuche der US-Regierung, das Problem zu lösen, bleiben zaghaft.

Von Thorsten Denkler, New York

Drei Tage bevor Alec Raeshawn Smith seinen Gehaltsscheck bekommt, stirbt er. Er stirbt, weil er kein Geld mehr hat, um seine Medizin zu bezahlen. Er wurde 26 Jahre alt. Alec litt wie Millionen anderer Menschen an Diabetes Typ1. Sein Körper produzierte kein Insulin, er musste sich das Hormon regelmäßig aus kleinen Fläschchen spritzen. Ein Massenprodukt, das er sich nicht mehr leisten konnte.

Bis Februar 2017 war Alec Raeshawn Smith noch über seine Mutter krankenversichert. Als dies nicht mehr ging, stand Smith vor der Wahl: Eine private Krankenversicherung abzuschließen - oder es ohne Versicherung zu versuchen. Für die günstige öffentliche Krankenversicherung Medicare war er zu jung - diese versichert nur Senioren von 65 Jahren aufwärts. Für Medicaid, die Versicherung für Bedürftige, verdiente er zu viel.

Doch eine private Versicherung ist teuer in den USA. Smith hätte wegen seiner Diabetes 450 Dollar pro Monat zahlen müssen - bei 7600 Dollar Selbstbehalt. Zu viel. Alec arbeitete als Restaurantmanager. Einkommen: 35 000 Dollar im Jahr. Er verzichtete auf die Krankenversicherung. Irgendwie würde es schon hinhauen, dachte er. Es haute nicht hin. Sein Apotheker konfrontierte ihn mit der neuen Realität: Die Insulin-Medikamente würden jetzt 1300 Dollar kosten - im Monat.

Alec Smith überlebte nicht einmal den ersten Monat, in dem er für alle Kosten selbst aufkommen musste. Seine Familie glaubt, er hat die Spritzen rationiert, um Geld zu sparen. Sein Todesurteil? Der 26-Jährige starb allein in seinem kleinen Apartment an diabetischer Ketoazidose. Es ist ein qualvoller Tod: Der Blutzuckerwert steigt rapide an, das Blut übersäuert, die Körperzellen dehydrieren, die Köperfunktionen setzen nach und nach aus.

Die USA haben viele große Probleme. Aber keines trifft die Menschen so hart, so unvorbereitet, wie die explodierenden Kosten für verschreibungspflichtige Arzneimittel. In keinem anderen Industrieland sind die Preise für diese Medikamente über die Jahre derart gestiegen.

Es beginnt bei Alltagsmedikamenten wie Blutdrucksenkern. Eine Monatspackung "Edarbi 40" mit 30 Tabletten, eine für jeden Tag, kostet in Deutschland, wo das Medikament auch nicht von den gesetzlichen Kassen bezahlt wird, weniger als 35 Euro. In den USA kostet die gleiche Packung umgerechnet 200 Euro.

Auch in den USA kommen Krankenkassen für Medikamente auf. Aber um mit niedrigen monatliche Prämien locken zu können, arbeiten viele Versicherungen inzwischen, wie im Fall von Alec Raeshawn Smith, mit hohen Selbstbehalten. Versicherte müssen erst mehrere Tausend Dollar jährlich aus eigener Tasche bezahlen, bevor die Krankenversicherung greift. Viele Verträge beinhalten auch eine prozentuale Beteiligung; 20 Prozent sind durchaus üblich. Für Patienten, die über Monate und Jahre hinweg teure Medikamente brauchen, bedeutet das oft den finanziellen Ruin.

30 00 Euro pro Jahr für Medikamente

Anfang 2018 ist der Mann von Gloria Rickert aus San Diego in Kalifornien an einem seltenen und aggressiven Hirntumor erkrankt. Viele Patienten sterben zwölf bis 24 Monate nach dieser Diagnose. Das ist hart genug. Aber Gloria Rickert geht jetzt schon das Geld aus. Die Medikamente sind teuer, der Anteil, den sie selbst bezahlen muss, beläuft sich auf 400 Dollar für 15 Kapseln. Diese Dosis reiche für fünf Tage, sagt sie. Übers Jahr gerechnet, muss sie knapp 30 000 Dollar nur für Medikamente beschaffen. Wenn sie keine Hilfe bekomme, sagt sie, drohe ihrer Familie der finanzielle Kollaps.

Besonders hoch sind die Preise für Medikamente gegen seltene oder lebensgefährliche Krankheiten. Solche Präparate machen nur zwei Prozent der Verschreibungen in den USA aus - aber ein Drittel der Kosten.

Der Pharmahersteller Cataylst Pharmaceuticals zum Beispiel hat gerade erst ein Präparat gegen das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom neu auf den Markt gebracht, eine Autoimmunkrankheit, von der in den USA etwa 100 000 Menschen betroffen sind. Die Jahresdosis soll nach Herstellerangaben 375 000 Dollar kosten. 30 Jahre lang hatte das Familienunternehmen Jacobus Pharmaceuticals den Wirkstoff hergestellt und kostenlos an Patienten abgegeben. Nun hat Cataylst Pharmaceuticals den Wirkstoff erstmals von der FDA, der US-Bundesbehörde für Arznei- und Lebensmittelsicherheit, zertifizieren lassen - um das Medikament auf dem freien Markt zu einem extremen Preis verkaufen zu können.

Amerikaner können sich Medikamente nicht mehr leisten

Leigh Purvis, Gesundheitsforscher am AARP Public Policy Institute, sagt, viele Menschen könnten sich ihre Behandlung schlicht nicht mehr leisten. Die Preise seien derart gestiegen, dass Patienten die Apotheke oft ohne ihr Medikament wieder verlassen würden. Sein Institut hat nachgerechnet, dass die Preise für die am häufigsten verschriebenen Medikamente allein 2017 im Mittel um 8,4 Prozent gestiegen sind. So geht das seit Jahren - und Experten prognostizieren weitere Preissteigerungen.

Eine Umfrage der Kaiser Family Foundation hat 2016 ergeben, dass 44 Prozent der US-Amerikaner sich ernsthaft Sorgen machen, wie lange sie sich noch Medikamente leisten können. 21 Prozent gaben an, Rezepte nicht eingelöst zu haben, weil sie kein Geld hatten, 16 Prozent sagten, sie hätten verschriebene Dosen reduziert, auch mal eine Tablette oder Spritze weggelassen, um Kosten zu sparen.

Die USA sind ein Paradies für Pharmahersteller. Nirgends sonst wird so viel Geld für Gesundheit und Medikamente ausgegeben: Das US-Gesundheitswesen hat 2016 3,3 Billionen Dollar verschlungen, 17,9 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der USA. Davon gingen 329 Milliarden Dollar allein für verschreibungspflichtige Medikamente drauf. Zum Vergleich: In Deutschland flossen im gleichen Jahr 11,3 Prozent der Wirtschaftsleistung ins Gesundheitssystem. 360 Milliarden Euro, von denen 55 Milliarden für Arzneimittel ausgegeben wurden. Laut OECD werden in den 19 führenden Industriestaaten etwa 452 Dollar pro Kopf und Jahr für Medikamente ausgegeben. In den USA sind es mehr als 1000 Dollar.

Für die überhöhten Preise hat Gesundheitsforscher Purvis eine einfache Erklärung: Im US-Gesundheitssystem hält die Hersteller nichts davon ab, ihre Medikamente zu einem hohen Preis auf den Markt zu bringen und ihn dann immer weiter zu erhöhen.

Ein großes Problem ist, dass Medicare und Medicaid als die mit Abstand größten staatlich subventionierten Krankenversicherungssysteme der USA nicht mit der Pharmaindustrie über Preise verhandeln dürfen. Medicare und Medicaid haben zusammen zwar mehr als 130 Millionen Versicherte und bezahlen etwa die Hälfte der nationalen Medikamentenrechnungen. Aber diese Marktmacht dürfen sie nicht einsetzen.

Die Preise auf dem US-Arzneimittel-Markt sind vollkommen ungeregelt. Wenn Neuentwicklungen von der FDA geprüft und genehmigt worden sind, können Hersteller das Produkt für mindestens sieben Jahre exklusiv vertreiben - und in dieser Zeit quasi jeden Preis dafür verlangen. Besonders hoch sind die Preise, die für neue Spezialmedikamente verlangt werden. Auch in Deutschland kritisieren Krankenkassen, dass die Pharmabranche immer mehr neue, angeblich innovative Medikamente zu immer höheren Preisen auf den Markt werfe. 2017 monierten die Ortskrankenkassen: Preise und medizinischer Nutzen stünden oft in keinem sinnvollen Verhältnis.

Marketingkosten höher als Entwicklungsbudgets

Um die hohen Preise durchzusetzen, springt in den USA mit der Produkteinführung stets eine gigantische Marketing-Maschinerie an. Den Menschen wird über teure TV-, Radio- und Internetwerbung eingebläut, dass dieses tolle, neue (und leider superteure) Medikament genau das richtige für sie ist. Und dass sie sich von ihrem Arzt kein anderes aufschwatzen lassen sollen. "Frag deinen Arzt nach diesem Medikament", ist der Standardsatz, mit dem praktische jede Arzneimittelwerbung endet. Die Marketingkosten der großen Pharmaunternehmen übersteigen inzwischen die Forschungs- und Entwicklungsbudgets. Und die Investition zahlt sich aus: Die Zahl der Verschreibung hat in den vergangen Jahren deutlich zugenommen.

Nach der Exklusivphase müsste sich der Markt eigentlich für sogenannte Generika öffnen. Doch in den USA haben Pharmahersteller Wege gefunden, Generika vom Markt fernzuhalten. Zum Bespiel wird die Phase des Exklusivrechtes mit immer neuen Mikropatenten verlängert. Diese Produkte, die oft keinen nachweisbaren medizinischen Zusatznutzen haben, werden dann als vollkommen neu und besser verkauft. In den USA gibt es einen Namen für diese Strategie: "Evergreening". Eine andere Strategie heißt "Pay for delay": Konkurrenten werden dafür bezahlt, einem erfolgreichen Medikament erst ein paar Jahre später mit einem Generika-Produkt Konkurrenz zu machen. Bezahlen müssen diesen Deal am Ende die Patienten. Die US-Handelskommission hat berechnet, dass die jährlichen Ausgaben für rezeptpflichtige Arzneien ohne solche Deals um 3,5 Milliarden Dollar geringer sein könnten.

Ein weiterer Trick sind sogenannte Bürgerpetitionen, mit denen die FDA aufgefordert werden kann, die Genehmigung bestimmter Generika aufzuhalten oder zu verzögern. Diese Petitionen müssen von der FDA bearbeitet werden, bevor sie ein Generika-Produkt zulassen. Was dauern kann. Im Schnitt verzögert sich damit eine Zulassung um 150 Tage. Hinter den Petitionen stecken allerdings keine Bürger. Sondern zu 92 Prozent Hersteller von Markenmedikamenten.

Weitere Zeit kann ein Markenhersteller gewinnen, wenn er als erster eine Generikaversion seines Markenproduktes auf den Markt bringt. Das Gesetz besagt, dass er dann 180 Tage lang keine Konkurrenz fürchten muss. Und für sein eigenes Generikum nimmt er dann einfach den gleichen Preis wie für sein Markenprodukt.

In Washington ist das Problem inzwischen angekommen. Im Kongress kursieren diverse Gesetzentwürfe, die explodierende Medikamenten-Preise regulieren sollen. Auch Präsident Donald Trump verteufelt inzwischen in fast all seinen Reden die gierigen Pharmahersteller.

Über das Wie aber wird gestritten. Es geht - wie so oft in den USA - um die Frage, ob das Land ein sozialistischer Staat zu werden drohe. Manche Republikaner erkennen diese Entwicklung zum Beispiel in den Gesetzesvorschlägen, die der progressive Senator und Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders Mitte Januar vorgestellt hat. Sanders will die Preise für rezeptpflichtige Arzneien auf den Median der Preise für ähnliche Präparate in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Japan begrenzen. Das allein sollte die US-Preise um die Hälfte nach unten drücken, glaubt Sanders. Außerdem soll der Gesundheitsminister mit den Pharmaherstellern Rabatte verhandeln dürfen, was weitere Einsparungen in Höhe von 36 Milliarden Dollar pro Jahr bringen soll. Mit einem weiteren Gesetz will Sanders Patienten und Apothekern erlauben, Medikamente günstig im Ausland einzukaufen.

"American Patients First"

Im Mai 2018 bereits hat Trump im Rosengarten des Weißen Hauses einen eigenen Plan gegen die Preisexplosionen vorgestellt. "American Patients First", hat er ihn genannt, amerikanische Patienten sollen an erster Stelle kommen. Auch er will, dass - in einem begrenzten Umfang - Medicare Preise verhandeln kann. Ansonsten aber bleibt das Papier vage. Trump will etwa die "Mittelsmänner" abschaffen. Also die Vertriebsebene zwischen Apotheke und Hersteller. Und die FDA hat er angewiesen, die Genehmigungsprozesse für Generika zu beschleunigen.

Dass weitreichende Regularien bisher fehlen, liegt auch daran, dass die Pharmakonzerne Milliarden investieren, um in Washington recht erfolgreich zu lobbyieren. Und das wenige, was die Regierung ohne Gesetz tun kann, hat bisher kaum geholfen. Die Preise steigen zwar nicht mehr so schnell wie in den Jahren zuvor. Aber sie steigen immer noch.

Solange sich daran nichts ändert, bleibt vielen US-Bürgern nur eines: Sie müssen betteln. Auf der Seite gofundme.com zum Beispiel. Die Suche nach dem Stichwort "Insulin" ergibt mehr als 7000 Treffer. Heather Smith aus San Antonio, Texas, hat dort um Spenden für ihre Mutter gebeten, die an Diabetes Typ1 leidet, seit sie 19 Jahre alt ist. Ihre Krankenversicherung wurde umgestellt, sie müsste jetzt alle 90 Tage 2000 Dollar zu ihrer Insulinbehandlung aus eigener Tasche beisteuern. Geld, das sie nicht hat.

Innerhalb von vier Monaten hat Heather Smith mehr als 3600 Dollar sammeln können. In ihrer Dankesnachricht schreibt sie: "Es war schwer, unsere Probleme mit so vielen Menschen zu teilen - niemand will um Geld für überlebenswichtige Medizin betteln. Aber ihr habt Güte gezeigt. Wir sind so dankbar."

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