USA:Achtzehn Jahre

"Wir hatten keine Ahnung, was wir da taten": Bisher geheime Unterlagen stellen den Einsatz der amerikanischen Armee am Hindukusch infrage.

Von Tobias Matern

Die Kommission ist schonungslos. Der Krieg habe mindestens 90 000 Tote gekostet, der Feind sei nun so stark wie nie seit dem Einmarsch. Weniger als zehn Prozent der Milliarden, die der Westen in dieses Land gepumpt habe, seien in den Wiederaufbau geflossen. "Entmutigend" sei das Ergebnis. Immerhin: Man sei ein "guter Verbündeter" im Nato-Einsatz gewesen.

Zu diesem Schluss kommt eine von der Osloer Regierung eingesetzte und dem Ex-Verteidigungsminister Bjørn Tore Godal geleitete Kommission, die den norwegischen Afghanistan-Einsatz analysiert hat. 230 Seiten ist der Report lang, erschienen im Jahr 2016. Anders als deutsche Regierungsanalysen ist er für jeden zugänglich. "Der Bericht wurde in der Öffentlichkeit mit großer Verwunderung aufgenommen", sagt Godal der SZ. Der Politik sei sehr klar vor Augen geführt worden: "Staatsaufbau und Krieg zusammen - das ist ein problematisches Konzept."

Mehr als 40 Nationen haben sich seit 2001 an dem von den USA geführten Einsatz am Hindukusch beteiligt, aber keiner der Verbündeten hat sich öffentlich so ehrlich damit auseinandergesetzt wie Norwegen. Wahrscheinlich scheuten die meisten Länder bis heute die öffentliche Untersuchung, um nicht öffentlich Fehler vorgehalten zu bekommen, vermutet Godal. Dabei gibt es reichlich Anlass zur Selbstkritik: Die Sicherheitslage ist katastrophal, viele Eltern beklagen, dass sie nie wissen, ob ihre Kinder unversehrt aus der Schule nach Hause kommen werden; auch wenn viele Politiker im Westen nicht zu Unrecht darauf verweisen, dass immerhin heute Millionen afghanische Kinder zur Schule gehen können - anders als zu Zeiten der Taliban. Doch statt einen demokratischen Staat auf den Weg zu bringen, hat der Westen Korruption, Kriegsfürsten und einen Zentralstaat befördert, der nicht zu den lokalen Gegebenheiten passt. Am Sonntag, als die Behörden Präsident Aschraf Ghani laut vorläufigem Endergebnis zum Sieger erklärten, setzte wie schon bei den vergangenen Abstimmungen die Wut der Unterlegenen ein - zahlreiche geschlagene Kandidaten wollen das Ergebnis nicht akzeptieren. In der Vergangenheit haben die Amerikaner derlei behoben, indem sie den Zweitplatzierten einfach in die Regierung hinein vermittelten - vor fünf Jahren wurde dafür sogar ein extra Posten geschaffen. Doch der "Regierungsgeschäftsführer" und der Präsident trauten sich nicht über den Weg.

Das ist bei Weitem nicht der einzige Fehler, den die USA begangen haben. Nun hat die Washington Post sämtlichen US-Regierungen, die seit dem Einmarsch 2001 die Verantwortung tragen, systematische Verschleierung vorgeworfen. Die Zeitung kommt zu diesem Schluss, nachdem sie erfolgreich auf Einsicht in 2000 Seiten Dokumente geklagt hatte, in denen Beamte, Diplomaten und Militärvertreter ungeschminkt sprechen. "Wir hatten keine Ahnung, was wir da taten", wird ein Drei-Sterne-General zitiert. Die 2400 in Afghanistan gefallenen US-Soldaten hätten umsonst ihr Leben geopfert. Ausgaben in Höhe von einer Billion Dollar, beklagt ein anderer Entscheidungsträger - "und was haben wir dafür bekommen?" Osama bin Laden müsse sich doch angesichts der massiven Ausgaben und des minimalen Ertrags noch im Grab über die USA lustig machen.

Hauptgrund für den Einsatz war, dass das in Afghanistan herrschende Taliban-Regime den Al-Qaida-Chef Osama bin Laden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht ausliefern wollte. Eine US-Spezialeinheit spürte Bin Laden 2011 in Pakistan auf und tötete ihn. Dass er sich ausgerechnet dort aufhielt, legt einen weiteren strategischen Fehler der USA offen: Sie haben auf Pakistan als Verbündeten gesetzt, dabei fand dort nicht nur Bin Laden Unterschlupf, sondern Teile des pakistanischen Sicherheitsapparats sind aus Sicht westlicher Geheimdienste auch für das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan verantwortlich.

Die in der Post veröffentlichten Aussagen hat John Sopko, der US-Sonderberichterstatter für Afghanistan, gesammelt. Er muss dem Kongress regelmäßig Berichte liefern, in denen genau aufgeführt wird, wofür das Steuergeld am Hindukusch ausgegeben wird. Sopko räumt ein: In Bezug auf Afghanistan sei die Öffentlichkeit "permanent belogen worden".

Ein Entscheidungsträger fragt: "Was haben wir dafür bekommen?"

Doch selbst diese Erkenntnis führt in den USA weder zu Massendemonstrationen wie zu Zeiten des Vietnam-Krieges noch zu einer nennenswerten Debatte über Sinn und Unsinn dieses Einsatzes. Daniel Markey, Professor an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University in Washington und Afghanistan-Kenner, sieht nur ein längst gefälltes Urteil bestätigt: "Der Afghanistan-Krieg ist durch Versagen gekennzeichnet, das über Parteigrenzen und zahlreiche Präsidentschaften hinausgeht."

Die USA sehen sich nach dem längsten Kriegseinsatz ihrer Geschichte inzwischen genötigt, mit den noch vorhandenen Vertretern eines ehemaligen Regimes zu verhandeln, das sie 2001 binnen Wochen aus Kabul vertrieben haben. Zwar ist es noch gar nicht lange her, dass die USA die Taliban als Terroristen gebrandmarkt haben, aber nun sitzen sie sich als Verhandlungspartner auf Augenhöhe gegenüber. Die Taliban fordern, dass die afghanische Regierung nicht an den Gesprächen teilnehmen darf - und die Supermacht lässt sich darauf ein. Weil sie unbedingt schnell abziehen will, um diesen endlosen Einsatz hinter sich lassen zu können. Die Taliban werden bei Friedensverhandlungen ein großes Stück der Macht in Kabul für sich beanspruchen können. Das ist nach 18 Jahren westlichem Einsatz für viele Afghanen eine bittere Perspektive.

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