Es ist ein Register des Grauens. Akribisch notiert das Gun Violence Archive in Washington die Zahlen der Toten und Verletzten, die Tag für Tag Opfer von Schusswaffen in den USA werden. In diesem Jahr sind es bisher 14 181 Tote (Stand 2. Mai). Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl einer deutschen Kleinstadt wie Tornesch bei Hamburg oder Marbach bei Stuttgart - ausgelöscht innerhalb von vier Monaten. Mehr als 8000 richteten die Waffe gegen sich selbst, 6065 der Toten aber wurden Opfer von Mord oder Totschlag oder durch eine verirrte Kugel niedergestreckt. Zum Vergleich: Das Bundeskriminalamt zählte im vergangenen Jahr in ganz Deutschland 2236 Fälle von Mord, Totschlag oder Tötung auf Verlangen.
Es erfordert nicht allzu viel Anstrengung, um eine direkte Verbindung von der hohen Zahl der Opfer von Schusswaffen in den USA zu deren massenhafter Verbreitung zu ziehen. In Deutschland kommen nicht ganz 20 private Schusswaffen auf 100 Einwohner. In den Vereinigten Staaten sind es dagegen 120 - so viel wie in keinem anderen Land. Und zudem gibt es kaum Auflagen und Beschränkungen, was Kaliber oder Schussfrequenz angeht. Selbst Sturmgewehre sind in vielen Bundesstaaten an der Ladentheke erhältlich. Und alle Initiativen nach den schrecklichsten Massakern in Schulen oder Supermärkten, zumindest den Besitz vollautomatischer Tötungsinstrumente einzuschränken, sind binnen Kurzem im Sand verlaufen.
Immer wieder hat es Versuche gegeben, diese zumindest für Europäer merkwürdig wirkende Obsession zu erklären. Meist wird dann das in der amerikanischen Verfassung garantierte Recht eines jeden US-Bürgers angeführt, Waffen tragen zu dürfen. Tatsächlich ist im gut zwei Jahrhunderte alten zweiten Zusatzartikel der US-Constitution vom "right to bear arms" die Rede. Doch was das zu bedeuten hat, darüber streiten sich die Juristen bis heute. Vieles deutet darauf hin, dass damit damals das Recht gemeint war, in jedem Bundesstaat Bürgerwehren zu organisieren - die Vorläufer der heutigen Nationalgarde.
Der Einfluss der Waffenlobby ist seit Jahrzehnten enorm
Dass die Verfassung jedem Einzelnen das Recht auf Waffenbesitz zubilligt, ist dagegen eher eine Interpretation des 21. Jahrhunderts. Erst 2008 sanktionierte der Oberste Gerichtshof in Washington das individuelle Recht der Amerikaner auf privaten Waffenbesitz. Noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, 1939, hatte der Supreme Court ganz anders entschieden und Beschränkungen gebilligt.
Seither aber hat sich die Situation drastisch gewandelt. Nach dem Krieg suchte die Waffenindustrie neue Märkte - und fand sie im Land selbst. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stieg der private Waffenbesitz in den USA kontinuierlich an, begleitet von Imagekampagnen der National Rifle Association (NRA), wörtlich übersetzt: der Nationalen Gewehrvereinigung. Der einstige Schützenklub mutierte seit den 1950er-Jahren in einen Lobbyverein und propagiert eben das "right to bear arms" als uramerikanisches Freiheitsrecht. Mit Erfolg: Nach dem Entscheid des konservativen Obersten Gerichtshofs 2008 sind Jahr für Jahr in vielen Bundesstaaten Einschränkungen beim Waffenbesitz gefallen - die Zahl der Toten aber ist gestiegen.