Süddeutsche Zeitung

US-Wahlkampf:Eine Runde Softball

Die meisten Journalisten fassen den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden ungewöhnlich zahm an - sehr zum Ärger von Donald Trump.

Von Alan Cassidy, Washington

Es ist keine leichte Aufgabe. Wie behandelt man einen Präsidentschaftskandidaten, der offensichtlich viele Mängel hat, aber dessen Gegner Donald Trump heißt? Ein Mann, der jeden Tag aufs Neue lügt, Gift ausschüttet und sich eine andere Realität malt? Was heißt das für die Berichterstattung? Kann man da überhaupt noch mit gleichen Ellen messen? Es sind Fragen, mit denen die politischen Medien in den USA derzeit konfrontiert sind, wenn sie den Demokraten Joe Biden zum Thema machen. Nicht selten hinterlassen die Medien den Eindruck, dass sie noch keine gute Antwort darauf gefunden haben.

In einem normalen Wahlkampf würde Joe Biden inzwischen mehrere Auftritte pro Tag haben, verteilt über das ganze Land. Er würde von einem Tross mitreisender Korrespondenten begleitet, vor denen er regelmäßig Stellung beziehen müsste: zur Kontroverse des Tages, zu Kritik an seinem Programm, zum Stand des Wahlkampfs. Doch wegen der Corona-Pandemie ist der 77-Jährige überwiegend digital unterwegs, und wenn er sich irgendwo hinbegibt, sind oft keine Medien zugelassen bis auf einen "Pool-Journalisten", der für die anderen Medien aufschreibt, was Biden sagt - ein besserer Stenograf.

Das ist bequem für den Kandidaten. Er minimiert damit das Risiko für jene verbalen Ausrutscher, für die er bekannt ist. Gleichzeitig heißt das auch, dass es in diesem Wahlkampf bereits eine kleinere Sensation ist, wenn der Kandidat dann doch einmal eine Pressekonferenz gibt. So war das zuletzt vor einigen Tagen, als Biden in seinem Heimatstaat Delaware eine Ansprache zu den neuesten Arbeitslosenzahlen hielt und sich danach den Journalisten stellte, direkt übertragen von den großen Kabelsendern. Was die Zuschauer da zu sehen und zu hören bekamen, war exemplarisch für den Umgang vieler Medien mit Biden in diesem Wahlkampf. Keine kritischen Fragen - lauter Steilvorlagen.

So wollte der erste Journalist von Biden wissen, was er von den angeblichen Aussagen Trumps über gefallene Soldaten halte, die derzeit für Aufregung sorgen: "Was sagt das aus über die Seele von Präsident Trump und über das Leben, das er führt?" Ein anderer Reporter fragte Biden, warum er nicht wütender auf Trump sei, und ein dritter lud ihn dazu ein, doch über Trumps Nähe zu Verschwörungstheoretikern zu sprechen. "Softball questions" nennen das die Amerikaner: leichte Fragen.

Konservative Kommentatoren verwenden diese Szenen als Beleg für ihre alte Behauptung, wonach die nationalen Medien der verlängerte Arm der Demokraten seien - das sehen viele Amerikaner so. Trump selbst warf den Korrespondenten im Weißen Haus vor, ihn stets anzugreifen. Biden dagegen? "Ihr habt ihm Fragen gestellt, die man einem Kind stellen würde." Man könnte es auch so sagen: Donald Trump wird gefragt, warum Donald Trump so grässlich ist. Joe Biden wird gefragt, warum Donald Trump so grässlich ist. Es sind nicht nur Trump und seine Anhänger, die das so sehen. Schon bevor die Pandemie den Wahlkampf auf den Kopf stellte, seien die Medien "bemerkenswert sanft" mit Biden umgegangen, hat der linke Medienkritiker Dan Froomkin beim Webmagazin Salon geschrieben: "Sie stellen ihm nicht einmal die offensichtlichen harten Fragen." Dabei gäbe es davon viele zu stellen.

Da sind die zahlreichen, teils fundamentalen Positionswechsel, die Biden in seiner politischen Karriere hingelegt hat. Da sind Fragen nach seinem Umgang mit Frauen, die sich unter anderem wegen Vorwürfen einer Ex-Mitarbeiterin stellen. Und da ist Bidens Hang zu Übertreibungen und erfundenen Geschichten. So hatte er Anfang des Jahres behauptet, er sei einst auf einem Weg zu einer Rede von Nelson Mandela verhaftet worden, was nicht stimmte. In jedem anderen Wahljahr wären diese Dinge Gegenstand langer Kontroversen in den Medien. Nun finden sie nicht statt.

Das hat wohl damit zu tun, dass Bidens Schwächen im Vergleich zu Trumps Entgleisungen und Handlungen als Präsident verblassen. Zumindest in Teilen der Medien dürfte auch die Erinnerung an den letzten Wahlkampf eine Rolle spielen. So zeigte eine Studie der Harvard-Universität, dass die Medien - bemüht um Kritik nach allen Seiten - damals häufiger über die Affäre über den privaten E-Mail-Server von Hillary Clinton berichteten als über Trumps Skandale. Viele Journalisten bezeichneten das rückblickend als Fehler, den sie beim nächsten Wahlkampf vermeiden wollten. Nun zeigt sich: Das ist tatsächlich keine leichte Aufgabe.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5024975
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.09.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.