Wo immer Bernie Sanders auftaucht, da erwartet den Präsidentschaftskandidaten das "S"-Wort. Der unabhängige Senator aus Vermont bezeichnet sich als "demokratischen Sozialisten", was viele Amerikaner traditionell verstört. Sozialismus klingt in ihren Ohren nach Kommunismus und Verstaatlichung. Für das konservative Amerika ist schon liberal eine Art Schimpfwort und beschreibt einen grenzenlos naiven Vegetarier, der an einer der beiden Küsten lebt und ignoriert, was die USA bedroht (Migranten, die Regierung in Washington, IS-Dschihadisten).
In einer lange erwarteten Rede hat Sanders, der einzige ernsthafte Konkurrent von Hillary Clinton, nun versucht den Wählern die Angst vor ihm persönlich und dem "demokratischen Sozialismus" zu nehmen. Der 74-Jährige stellt sich dabei in eine Reihe mit US-Präsident Franklin Delano Roosevelt (FDR), der von 1933 bis 1945 regierte und nach der Weltwirtschaftskrise die US-Gesellschaft unter dem Schlagwort "New Deal" umbaute.
"Fast alles, was Roosevelt vorschlug, wurde als 'sozialistisch' abgetan", ruft Sanders seinen Zuhörern an der Georgetown University zu. FDR setzte unter anderem durch: Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung, das Ende von Kinderarbeit, Sozialversicherung, die 40-Stunden-Arbeitswoche, Bankenaufsicht und staatliche Programme, die Millionen Amerikanern Arbeit gaben. Was damals als radikal galt, ist heute akzeptiert, so Sanders' Argument.
Natürlich gehe es den US-Bürgern heute besser als in den Dreißigern, gibt Sanders zu, doch noch immer lebten Millionen in Armut oder bräuchten mehrere Jobs, um ihre Familien zu versorgen. Dann zitiert er Martin Luther King, der 1968 sagte: "In diesem Land gibt es Sozialismus für die Reichen und rauen Individualismus für die Armen." Der Beifall ist enorm, als Sanders ruft: Wer mit Marihuana erwischt wird, kriegt eine Vorstrafe, die ihn lebenslang stigmatisiert. Die Banker, die die Welt 2007/2008 an den Rand des Abgrunds geführt hätten, erhielten keine Vorstrafen - sondern einen Bonus.
Warum so viele Amerikaner wütend sind
Danach folgen viele Zahlen, die seit der Occupy-Wall-Street-Bewegung bekannt sind und die Sanders im Wahlkampf ständig wiederholt: 58 Prozent des neu entstehenden Wirtschaftswachstums in den USA fließen auf die Konten des reichsten Prozent. Jene superreichen Amerikaner, die zu den obersten "0,1 Prozent" gehörten, besäßen genauso viel wie die unteren 90 Prozent.
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Viele Amerikaner seien wütend, weil sie "wie verrückt" arbeiten und trotzdem weniger verdienen würden. Jeder zweite Arbeitnehmer habe keine Rentenersparnisse, klagt Sanders. Es sei beschämend, dass das reichste Land in der Geschichte der Welt seinen Bürgern Dinge vorenthalte, die anderswo selbstverständlich seien.
In seiner Rede zählt Sanders auf, was für Deutsche normal klingt:
- Gesundheitsversorgung: "Es darf kein Privileg sein, krankenversichert zu sein", ruft Sanders. Er spottet: "Ich weiß nicht, was radikal daran sein soll, zu fordern, dass kranke Leute zum Arzt gehen dürfen." Er sei überzeugt, dass die USA noch innovativer wären, wenn jeder krankenversichert sei: "Hunderttausende bleiben in einem Job, den sie nicht mögen, nur weil sie dort abgesichert sind."
- Mutterschutz: "Wenn eine Frau ein Baby bekommt, dann sollte sie nicht nach einer Woche wieder von ihm getrennt sein", ruft Sanders. Es sei beschämend, dass neben Papua-Neuguinea nur die USA es Familien nicht ermöglichten, nach der Geburt Zeit miteinander zu verbringen.
- kostenlose Hochschulbildung: Mit Verweis auf Europa setzt sich Sanders für bezahlbare Bildung ein - US-Studenten verlassen die Uni oft mit mehr als 100 000 Dollar Schulden. Was heute ein Hochschul-Abschluss sei, war vor fünfzig Jahren noch ein Schulabschluss, argumentiert Sanders. Die Ansprüche auf dem Arbeitsmarkt sind gestiegen.
- Gefängnisreform: Sanders will dafür sorgen, dass weniger Amerikaner eingesperrt werden. Dies koste Unsummen und zerstöre das Leben von Millionen Familien. "Wir sperren mehr Leute ins Gefängnis als das kommunistische, autoritäre China, das vier Mal mehr Menschen hat", ruft Sanders, der bisher nur von wenigen schwarzen Wählern unterstützt wird.
- Wahlrecht für alle Bürger: Sanders illustriert das Misstrauen der Amerikaner in ihre Politiker mit Zahlen: "63 Prozent der Amerikaner und 80 Prozent der jungen Leute hielten es nicht für nötig, 2014 bei der Kongresswahl abzustimmen." Im Gegensatz zu vielen Republikanern, welche den Prozess der Registrierung verschärfen wollen, ruft Sanders: "Ich kämpfe dafür, dass jeder 18-Jährige sofort als Wähler registriert wird."
Ganz auf radikale Sätze verzichtet der Senator aus Vermont in seiner Rede doch nicht: "Die Gier der herrschende Klasse zerstört unser Land." Er wirbt im Wahlkampf für eine "politische Revolution" und fordert die Bürger auf, sich dieser Bewegung anzuschließen. Man müsse die "Machtstruktur" der "herrschenden Klasse" zerschlagen, um die US-Demokratie wiederzubeleben.
Sanders: Eine Mehrheit unterstützt meine Vorschläge
Es folgt ein Argument, dass Sanders bei seinen Auftritten wiederholt: Umfragen würden belegen, dass ein höherer Mindestlohn, der Kampf gegen Klimawandel oder Investitionen in die marode Infrastruktur von einer Mehrheit der Amerikaner unterstützt würde. Doch leider verhindere "eine Handvoll Milliardäre" mit Unterstützung von Lobbyisten und dubiosen Super-Pacs, dass über diese Themen im US-Kongress debattiert würde.
Auf Deutschland übertragen vertritt Sanders also klassische SPD-Positionen. An seine Zuhörer appelliert er, dass sie sich an diese Rede erinnern sollen, wenn er das nächste Mal ("also morgen") als Radikaler bezeichnet werde. Er glaube an Privatfirmen, die investieren und auch Geld erdienen wollen ("am besten hier in Amerika") und wolle nicht den Supermarkt an der Ecke verstaatlichen. Seine Definition von "demokratischem Sozialismus" folge Franklin Roosevelt: "Wir müssen ein Wirtschaftssystem schaffen, von dem alle profitieren - und nicht nur die Superreichen."
Er glaube an einen Satz, den FDR 1944 in seiner Rede an die Nation gesagt haben: "Echte individuelle Freiheit kann es nicht ohne wirtschaftliche Sicherheit geben. Bedürftige Menschen sind keine freien Menschen." Sanders möchte seine Vorschläge finanzieren, indem er die Steuern für Reiche und Superreiche erhöht und dafür sorgt, dass Hedgefonds und andere Finanzfirmen höhere Abgaben zahlen. Zudem will er Steuerschlupflöcher für Reiche schließen.
Auch an der Elite-Universität Georgetown ist der Empfang für Sanders sehr freundlich: Hunderte Studenten standen stundenlang im Regen, um den 74-Jährigen zu hören. Auch wenn Plakate verboten sind, wird er mit "Bernie Bernie"-rufen begrüßt und verabschiedet. Doch ob er jene überzeugt hat, denen das "S"-Wort vorher suspekt war, ist unklar. Studenten, die sich vorher als Republikaner zu erkennen gaben, sagten später, dass sie nicht glauben, dass der Staat alle möglichen Dinge "für umsonst" ausgeben sollte. Aber Sanders' Team will eher Clinton-Fans umgarnen.
In der Außenpolitik ist Sanders kein Pazifist
Da die Debatte um die richtige US-Reaktion auf die Pariser Anschläge weiter die innenpolitische Debatte dominiert und die in Umfragen führende Hillary Clinton kurz vorher ihre Anti-IS-Strategie vorgestellt hatte, äußert auch Sanders sich zur Außenpolitik. Er betont, dass er kein Pazifist sei ("ich habe für den Afghanistan-Krieg gestimmt") und will mit Verbündeten gegen den IS kämpfen.
Aber er betont, dass er nicht antrete, um "sorglos Abenteuer im Ausland" durchzuführen, sondern um die Amerikas Stärke in der Heimat zu erneuern. Als Präsident werde er "nicht zögern, diese Nation zu verteidigen", sagt Sanders, aber "ich werde nie unsere Söhne und Töchter in fragwürdige Schlachten schicken, deren Ende nicht in Sicht sind."
Sanders fordert im Kampf gegen die IS-Miliz größeres Engagement von Saudi-Arabien: "Sie haben das drittgrößte Militärbudget der Welt, aber sie tun nichts gegen den IS." Kuwait solle sich daran erinnern, dass die USA das Land 1991 vor Iraks Diktator Saddam Hussein gerettet habe. Und er könne nicht verstehen, dass Katar bis zu 200 Milliarden in Stadien für die Fußball-WM investiere, aber kaum Geld für Kampf gegen die IS-Miliz bereit stelle - und seine Bürger weiterhin Geld an die Dschihadisten spenden könnten.
Und natürlich nutzt Sanders die Chance, sich von der Ex-Außenministerin abzusetzen, ohne sie beim Namen zu nennen: Der Hauptgrund für die Instabilität in Nahost sei der Einmarsch der USA in den Irak 2003, der mit angeblichen Massenvernichtungswaffen begründet wurde. Während Clinton zustimmte, habe er damals mit "Nein" votiert. Diese Tatsache wird Sanders betonen, bis entschieden ist, welcher der beiden von den Demokraten ins Rennen um das Weiße Haus geschickt wird.
Linktipps:
- Bei der Washington Post gibt es ein Quiz, mit dem jeder herausfinden kann, ob er ein "demokratischer Sozialist" ist.
- Die mehr als einstündige Rede kann hier nachgelesen oder angeguckt werden:
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