Süddeutsche Zeitung

Folgen der US-Wahl:Zeit, endlich aufzuwachen

Die zerrissenen USA werden auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt sein. Deshalb wird es für Deutschland Wohlstand und Sicherheit auf Dauer nur geben, wenn die Europäer in bisher nicht gekannter Weise für die Welt einstehen, in der sie leben wollen.

Kommentar von Daniel Brössler

Eine Katastrophe ist kein schöner Anblick. Verständlich ist es, vor ihr die Augen zu verschließen. Wohin das allerdings führt, haben die Menschen fast überall auf der Welt in den vergangenen Monaten der Pandemie zu spüren bekommen. Existenzielle Gefahren verschwinden nicht, wenn sie verniedlicht werden. Sie wachsen nur. So lange, bis sie nicht mehr in den Griff zu bekommen sind. Das sollte sich jeder klarmachen, der sich die Lage nach der Präsidentenwahl in den USA schönreden möchte. Amtsinhaber Donald Trump hat sich in der Wahlnacht nicht besser benommen als ein drittklassiger osteuropäischer Potentat. Was einmal die westliche Welt war, ist in Not. Viel hängt nun davon ab, ob und wie sich Deutschland dieser Tatsache stellt. Übrigens nicht nur für Deutschland.

Für die Deutschen kommt das an sich nicht unerwartet. Sie haben sich an den wirtschaftlichen, aber auch politischen Erfolg ihres Landes gewöhnt. Es hat sich tief ins Selbstverständnis dieser Republik eingegraben, stets Teil der Lösung und nicht des Problems zu sein. Das war auch in den vergangenen vier Jahren so, in denen die Berliner Politik eine Strategie der Überwinterung verfolgt hat. Sie hat versucht, die Fahne der liberalen Demokratie so lange in die Höhe zu halten, bis auch die USA wieder mit anpacken. Diese Strategie ist nun an ihre Grenzen gestoßen, unabhängig vom endgültigen Ausgang des amerikanischen Wahldramas. Die zerrissenen USA werden auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt sein.

Die deutsche Erfolgsgeschichte hat einen entscheidenden Haken

Immer schwerer wiegt nun der große Haken der deutschen Erfolgsgeschichte. Diese lebt von Voraussetzungen, für die Deutschland kaum in der Lage ist, selbst zu garantieren. Als Exportnation ist es angewiesen auf geregelten weltweiten Handel, als liberale Demokratie auf eine möglichst große Gemeinschaft Gleichgesinnter und als Land in Europa auf den Fortbestand der europäischen Einigung und des Bündnisses, das sich immer noch westlich nennt. Nichts davon kommt ohne Weiteres aus ohne die größte westliche Demokratie.

Damit aber wächst ins fast Unermessliche die Verantwortung des wirtschaftlich stärksten und zusammen mit Frankreich mächtigsten Landes der Europäischen Union. Verantwortung dafür, die EU trotz der auch in Europa grassierenden Pandemie des Populismus zusammenzuhalten. Verantwortung aber auch dafür, die Bürger Europas zu verteidigen. Deutschland hat sich in den Jahren der Trump-Präsidentschaft über Stellen hinter dem Komma echauffiert und darüber, ob der US-Präsident der Bundesregierung Rechnungen zu präsentieren hat. Die Frage aber ist, was passieren würde, wenn die Europäer im Ernstfall auf sich allein gestellt wären.

Wer Angela Merkel nachfolgt, trägt eine riesige Bürde

Wenn zuletzt vom Ernst der Lage die Rede war, so war mit gutem Recht die Ausbreitung von Covid-19 gemeint. Wohlstand und Sicherheit in Deutschland werden aber nicht nur davon abhängen, wie es gelingt, diese Pandemie zu überstehen. Beides wird es auf Dauer nur geben, wenn die Europäer in bisher nicht gekannter Weise für die Welt einstehen, in der sie leben wollen. Das hängt gewiss nicht nur von Deutschland ab, aber ohne Deutschland wäre alles vergebens. Wer immer nach Angela Merkel ins Kanzleramt einzieht, wird diese Bürde tragen müssen. Um nicht weniger als das wird es gehen, wenn wieder gewählt wird - nächstes Jahr in Deutschland.

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