Blaue, weiße und rote Ballons schweben in der Bibliothek der Brandywine High School in Wilmington, Delaware, Joe Bidens Heimatort. "Kool and the Gang" singen ihren 80er-Jahre-Hit Celebration, vom Band natürlich. Bidens Frau Jill, die in dieser Schule gleich ihre Parteitagsrede halten wird, steht neben ihm und klatscht. Diverse Familienmitglieder hinter ihm tun es ihr gleich.
Biden nimmt seine Maske ab. "Thank you very, very much. From the bottom of my heart", sagt er in die Kamera. Es sind seine ersten Worte als frisch nominierter Präsidentschaftskandidat der Demokraten. "Thank you, thank you, thank you". Und bis Donnerstag.
Biden setzt seine Maske wieder auf. Genug gefeiert. Am Donnerstag wird er in seiner Rede die Nominierung akzeptieren, es wird der Höhepunkt des viertägigen, fast ausschließlich virtuellen Parteitages, der von Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin aus gesteuert wird.
Es ist 22:20 Uhr Ostküstenzeit, als die Nominierung verkündet wird. Und die demokratische Partei der USA Geschichte schreibt. Biden ist der bislang älteste Kandidat, den eine der beiden großen Parteien für das Amt des Präsidenten aufgestellt hat.
Viel wichtiger aber: Mit Kamala Harris nominieren die Demokraten die erste weibliche Person of Color für das Amt des Vizepräsidenten. An einem nicht minder historischen Tag übrigens. Am Dienstag vor 100 Jahren ist der 19. Verfassungszusatz in Kraft getreten, der den Frauen in den USA nach langem Kampf das Recht gab, wählen zu gehen.
Für Biden hat es eine Weile gedauert bis zu diesem Moment. Er wäre gerne 2016 schon angetreten. Bis ihm Barack Obama klarmachte, dass er an Hillary Clinton nicht vorbeikommen werde. Und dann hat eben Trump die Wahl gewonnen.
Das Abstimmungs-Prozedere erinnert ein wenig an den Eurovision Song Contest. Nur dass nicht gesungen wird. Und dass es beim Ergebnis keine Überraschung gibt - das stand vorher fest. In den Vorwahlen hatte Biden 2687 Delegiertenstimmen gewonnen. Sanders 1073.
Nacheinander geben Vertreter aller 50 Bundesstaaten, der US-Außengebiete wie Puerto Rico, von Washington DC und auch der Auslandsamerikaner "sehr stolz" die Stimmverteilung bekannt. Eine knappe halbe Stunde dauert der sogenannte "Roll Call". Erstaunlich oft werden dem linken Senator Bernie Sanders zweistellige Ergebnisse zugesprochen. Minnesota: 31 Stimmen für Sanders, 60 für Joe Biden. Oder Oklahoma: 13 Sanders, 24 Biden. Pennsylvania: 34 für Sanders, 175 für Joe Biden.
Die Zählerei endet erst, als Biden mit den Stimmen von Delaware die Mindestzahl von 1991 Stimmen überschreitet. Die Nominierung ist damit gesichert. Aber Sanders hat noch einmal unter Beweis stellen können, wie stark seine linke Bewegung ist. In kommenden Machtkämpfen wird ihm das helfen.
Der dramaturgische Höhepunkt des Tages aber soll die Rede von Jill Biden sein, die künftige First Lady der USA, wenn es nach den Demokraten geht. Sie beginnt ihre Rede auf dem Gang der Brandywine High School, dann geht sie mit wenigen Schritten in den Klassenraum 323. In diesem Klassenzimmer hat sie Anfang der 1990er Jahre Englisch unterrichtet. Sie war mehr als 30 Jahre lang Lehrerin. Und behielt den Job bis zu ihrer Pensionierung auch dann noch, als ihr Mann Vizepräsident unter Barack Obama war. Und sie Second Lady.
Jill Biden spricht über die schmerzhaft leeren Klassenzimmer in dieser Pandemie, über die Nöte und Ängste von Lehrern und Schülern. Und sie spricht über ihre Familie. Darüber, wie sie mit 23 Jahren Joe Biden kennenlernte, der drei Jahre zuvor 1972 seine erste Frau und seine kleine Tochter durch einen Autounfall verloren hatte.
Erfahrungen von Verlust
Seinen ersten Amtseid als Senator für den Bundesstaat Delaware nahm Biden im Krankenhaus entgegen, wo seine beiden Söhne lagen, die den Unfall überlebt hatten. "Wie gibt man einer zerbrochenen Familie ein Zuhause?", fragt Jill Biden. Ihre Antwort: "So wie man einem zerbrochenen Land ein Zuhause gibt: Mit Liebe und mit Verständnis."
Sie hat auch die Erfahrung des Verlustes gemacht. Joe Bidens ältester Sohn Beau starb 2015 an Krebs. Danach sei für sie alles Dunkel gewesen. Ihr Mann aber sei wieder zur Arbeit gegangen. Es habe sie gewundert, wie er überhaupt "einen Fuß vor den anderen setzen konnte". Aber: "Ich habe verstanden, warum er es tat." Um die Menschen, für die er Verantwortung trug, nicht im Stich zu lassen.
Es war schon am Montag auffällig, wie viele Republikaner auf diesem Parteitag der Demokraten reden. Darunter zwei ehemalige Gouverneure wie John Kasich aus Ohio. Er sei sein Leben lang Republikaner gewesen, sagte er, aber jetzt unterstütze er Joe Biden. Am Dienstagabend ist es dann Colin Powell, der frühere Außenminister unter George W. Bush, der die Parteigrenzen überschreitet. Er attestiert Joe Biden, dass der "die Schmeicheleien von Diktatoren und Despoten" zurückweisen und wieder amerikanische Werte in die Welt tragen werde. Anders als Trump, hätte er noch sagen können. Aber das war gar nicht nötig.
Wie der Montag glich auch der Dienstagabend in weiten Teilen einem zweistündigen Polit-Potpourri. Schauspielerin Tracee Ellis Ross führte durch das von Publikum freie Programm. Mal durften politische Größen der Vergangenheit etwas sagen, mal die Stars der kommenden Jahre. Dazu gab es reichlich Musik. Und ein bisschen wurde auch über Gesundheits- und Außenpolitik gesprochen.
Unvermeidlicher Redner ist auf jedem Parteitag der Demokraten Bill Clinton seit dem Ende seiner Amtszeit 2001. Das Oval Office müsse in dieser Zeit der Krise eine Kommando-Zentrale sein, sagte er. Stattdessen sei es ein Sturm-Zentrum. Da sehe er derzeit "nur Chaos". Ansonsten spricht er etwas saftlos über die Wirtschaft. Dabei ist er mit 74 Jahren drei Jahre jünger als Joe Biden.
Alexandria Ocasio-Cortez, Kongressabgeordnete aus New York und neue Gallionsfigur der jungen Progressiven, hatte vor dem Roll Call die Aufgabe, in nur einer Minute Redezeit Bernie Sanders als Kandidaten vorzustellen. Die von ihm geschaffene Bewegung sei dazu da, "die Wunden der Rassenungerechtigkeit, Kolonialisierung, Frauenfeindlichkeit und Homophobie zu erkennen und zu reparieren", sagte sie etwa. Und neue gewaltfreie Konzepte der Immigrations- und Außenpolitik zu erarbeiten.
Etwas hölzern klingt das noch. Aber es war auch ihre erste Parteitagsrede, unter ungünstigen Bedingungen. Sollte Biden gewinnen am 3. November, dann wird sie zu denen gehören, die Biden das Leben sehr schwer machen werden.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Kamala Harris sei die erste Frau, die bei den Demokraten für das Amt als Vizepräsidentin kandidiert habe. Das ist nicht der Fall. 1984 bewarb sich Geraldine Ferraro für das Amt.