Alle waren nett, selbst die alten Gegner. Bernie Sanders verschickte einen Tweet, in dem er Kamala Harris gratulierte, nachdem der demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden sie am Dienstag zu seiner Vizekandidatin ernannt hatte. "Sie wird Geschichte machen", schrieb er.
Geschichte - history -, das war offenbar das Schlagwort der Stunde. Jedenfalls klang es bei Elizabeth Warren ganz ähnlich. "Als unsere Kandidatin für die Vizepräsidentschaft macht Kamala Harris Geschichte", hieß es in ihrer Stellungnahme. Und die meisten Demokraten atmeten erleichtert auf: Glück gehabt! Die Linken machen keinen Stress; wenigstens keinen allzu großen.
Denn natürlich waren die Glückwünsche, die die beiden Anführer des linken Flügels der Partei so großherzig verteilten, zumindest zum Teil geheuchelt. Jeder weiß, dass Sanders und Warren lieber nicht mit Biden an der Spitze in den Präsidentschaftswahlkampf gezogen wären, den sie für einen lauen, mutlosen Mitte-Politiker halten. Deswegen sind sie in der Vorwahl ja gegen ihn angetreten. Der Riss, der damals die Partei tief in Moderate und Linke gespalten hat, ist heute allenfalls zugekleistert, nicht geschlossen.
Und jeder weiß auch, dass dieser sogenannte progressive Parteiflügel lieber eine etwas linkere und lautere Vizekandidatin gehabt hätte als die geschliffene, kontrollierte Juristin Harris. Einige Frauen, auf die dieses Profil passt, standen angeblich auf Bidens Liste. Auch darüber, dass er Warren auswählen könnte, gab es Spekulationen. Allerdings wurde auch rasch klar, dass die Demokraten in einem Jahr, in dem das gesamte Land von "Black Lives Matter"-Protesten erschüttert wird, nicht mit zwei Weißen zur Präsidentschaftswahl antreten können.
Am Ende entschied Biden sich dann für Harris: eine schwarze Frau, nach allen gängigen Bewertungskriterien eine solide linksliberale Senatorin - aber bestimmt keine Politikerin, die die jungen, wilden Aktivisten am linken Rand der Partei besonders begeistert.
Kritiker finden, Harris sei zu eng mit Internetmillionären
Das ist die Klientel von Bernie Sanders. Und es ist deswegen kein Zufall, dass es vor allem ehemalige Sanders-Mitarbeiter und -Anhänger sind, die Bidens Auswahl seither kritisierten. "Es herrscht darüber schon sehr viel Frustration ", sagt Briahna Joy Gray, die frühere Pressesprecherin von Sanders' Wahlkampagne.
Sie und viele andere Linke werfen Harris vor allem vor, dass sie in ihrer Zeit als Staatsanwältin in Kalifornien nichts gegen Polizeibrutalität unternommen habe. Stattdessen habe Harris sich damals stolz als "Top Cop" bezeichnet, als Spitzenbulle, sagt Gray. Als demokratische Vizekandidatin sei sie daher heute die Falsche.
Ähnlich enttäuschtes Gegrummel kommt auch aus anderen Ecken des progressiven Universums. Harris' Kritiker bemängeln, dass sie zu eng mit den kalifornischen Internetmillionären sei, dass sie der Wall Street zu nahe stehe, dass sie Bernie Sander's Plan für eine allgemeine staatliche Krankenversicherung zuerst unterstützt habe, dann aber davon abgerückt sei, je nach politischer Opportunität.
Harris ist 55 Jahre alt, sie wird auf absehbare Zeit eine wichtige Rolle bei den Demokraten spielen, vor allem, wenn sie und Biden gewinnen. Und genau davor haben die Linken Angst.
"So wie es aussieht, werden für die nächsten zwölf Jahre die Neoliberalen die Macht in der Partei haben", sagte Norman Solomon, der Gründer des Aktivistennetzwerks RootsAction dem Magazin Politico. Die Organisation ruft auf ihrer Internetseite dazu auf, Donald Trump aus dem Weißen Haus zu vertreiben - und dann gegen den Zentristen Biden zu protestieren.
US-Präsidentschaftswahl:Harris schreibt schon jetzt Geschichte
Kamala Harris könnte die erste Frau und die erste Person of Colour im Amt des Vizepräsidenten der USA sein. Nach den Präsidentschaftsambitionen von Shirley Chisholm 1972 mussten schwarze Frauen fast 50 Jahre auf eine Hoffnungsträgerin wie sie warten.
Bisher ist das, was da am linken Rand bei den Demokraten wabert, jedoch wohl eher Frust und Enttäuschung, keine offene Wut. Es gab keinen harten, organisierten Widerstand gegen Harris während des Auswahlprozesses, und es gibt jetzt, da sie ernannt ist, keinen echten Aufstand.
Das hat unter anderem damit zu tun, dass auch die meisten Demokraten in Amerika die Realität sehen: Biden ist der Kandidat, er hat das Recht, sich seine Vizekandidatin auszusuchen. Wegen Harris einen parteiinternen Krieg anzuzetteln, würde nur Donald Trump helfen, dessen Wahlkampfteam auf jede Gelegenheit wartet, um Biden unzufriedene Sanders-Anhänger abspenstig zu machen.
Die New Yorker Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, Ikone der Progressiven und Sanders' wichtigste Verbündete im Kongress, fand einen eleganten Ausweg aus diesem Dilemma. Sie verzichtete auf einen eigenen Gratulationstweet an Kamala Harris. Aber sie leitete die Glückwünsche, die Sanders und Warren verschickt hatten, an ihre acht Millionen Follower weiter.
"Women of Color" - das schützt Harris vor scharfen Attacken von links
Und vermutlich dämpft auch die Tatsache, dass Harris eine "Woman of Color" ist, die Lautstärke der Kritik an ihr. Harris' Mutter stammt aus Indien, ihr Vater ist aus Jamaika in die USA eingewandert, sie selbst identifiziert sich als Afroamerikanerin. Das schützt sie bis zu einem gewissen Grad vor scharfen Attacken von links.
Sie sei zwar nicht sicher, dass Harris die beste Wahl sei, sagte die schwarze Kongresskandidatin Cory Bush, die zum linken Flügel der Demokraten zählt, der New York Times. "Aber ich werde nicht auf eine andere Woman of Color losgehen."
Wäre Biden dem Rat einiger Kommentatoren gefolgt und hätte die weiße Senatorin Amy Klobuchar aus Minnesota oder die weiße Gouverneurin Gretchen Whitmer aus Michigan zur Vize gemacht, um seine Wahlchancen dort zu erhöhen, hätte es in der Partei wohl eine veritable Revolte gegeben. Mit Harris herrscht Ruhe, und die Demokraten können ihr Hauptziel verfolgen: Donald Trump zu besiegen.