Süddeutsche Zeitung

US-Vizepräsident Joe Biden:Obamas verbale Schrotflinte

Joe Biden, der zweite Mann im Weißen Haus, ist des Präsidenten lautester Werbetrommler. Ein scheinbar unpassendes Paar, das sich doch wunderbar ergänzt: Während Obama intellektuell und cool bleibt, herzt Biden Babys und umarmt Arbeitslose. Doch mit der Rolle des Vizes dürfte sich der Gefühlspolitiker bald nicht mehr zufriedengeben.

Christian Wernicke, Charlotte

Joe Biden ist keiner, der seine Worte auf die Goldwaage legt. Er redet von der Leber weg, ohne Teleprompter, meist frei und ohne Skript. Das geht manchmal schief. Vor einem Jahr etwa verglich der Demokrat rechte Tea-Party-Sympathisanten im Kongress mit "Terroristen", und erst vor zwei Wochen warnte er, der republikanische Herausforderer Mitt Romney wolle das Volk "wieder in Ketten legen". Das hat dem 69-jährigen Vize-Präsidenten den Ruf eingebracht, gleichsam eine verbale Schrotflinte zu sein.

Manchmal aber trifft er ins Schwarze. So wie im April, als diesem Instinktpolitiker der Slogan einfiel, mit der sich die (in den Augen vieler Landsleute arg gräuliche) Bilanz von Barack Obama aufhellen lasse. Biden benutzt die Formel seither jeden Tag, gerade jetzt, da er den Wählern beweisen will, dass es Amerika nach dreieinhalb Jahren unter diesem Präsidenten - trotz Arbeitslosigkeit und Krisenstimmung - besser gehe als vor dessen Amtsantritt. Biden bündelt es in sieben Worten: "Bin Laden ist tot, General Motors lebt!"

Da steckt alles drin. Der Militärschlag, der Amerikas Staatsfeind Nummer eins erledigte. Und die Erinnerung daran, dass all die Schuldenprogramme und Staatsinterventionen, die die Republikaner täglich als Verschwendung anprangern, eben drei, vielleicht sogar vier Millionen Jobs gerettet haben.

Vermutlich ist dieser simple Satz zu platt für Obama, diesen komplexen Denker. Vielleicht zögern auch deshalb die präsidentiellen PR-Strategen, den Leitspruch als Aufkleber oder auf T-Shirts zu verbreiten. Aber sicher ist eines: Zu Joe Biden passt er. Und der Mann könnte sich am Donnerstag selbst zitieren, wenn er kurz vor seinem "Boss und Kumpel" redet.

"The odd couple"

Joe Biden ist gewissermaßen der "Anti-Obama". Im Weißen Haus scherzen sie über dieses Doppel an der Spitze als "the odd couple": als das sonderbar-komische Paar, das nicht zueinander passt und das sich doch wunderbar ergänzt. Biden, der Gemütsmensch, sucht stets Nähe und Wärme, während Obama cool bleibt. Biden, der Ex-Senator mit den 36 Jahren Erfahrung im Kongress, ist der Netzwerker, derweil Obama auf dem Kapitolshügel kaum Freunde hat. Und Biden, der leidenschaftliche Internationalist, war und ist einer von Obamas engsten außenpolitischen Beratern.

Jetzt, im Wahlkampf, ist Joe Biden besonders wertvoll. Obamas Kampagne schickt ihren Frontmann, der einst im armen Arbeitermilieu von Pennsylvania aufwuchs, am liebsten in die "weißen Territorien" - also in Gegenden, wo die Malocher leben, die Weißen im Blaumann ohne College-Abschluss. Diese einstige Stammwählerschaft hat sich abgewendet von den Demokraten und von dem schwarzen Präsidenten, den sie als arrogant und elitär empfinden. Umfragen prophezeien, nur gut ein Drittel von ihnen werde für Obama votieren. Wenn das so bleibt, wird er hier - in Ohio, Iowa oder Wisconsin - die Wahl verlieren.

Biden gibt alles. In Detroit wiegelt er Gewerkschafter für Obama auf. In Ohio herzt er Babys, tröstet und umarmt Arbeitslose. Dann zieht er weiter, stürmt rein ins "Mocha House", den lokalen Diner: "Hi, ich bin Joe!" Biden, eine stattliche Gestalt mit lichtem, silbergrauen Haar, beugt sich hinab zu Barbara, der Dame im Rollstuhl ("Gott segne Sie!"). Er schüttelt alle Hände, die er kriegen kann, posiert für Erinnerungsfotos. Mit Jennifer, der Krankenschwester, würde er am liebsten tanzen, zum Abschied bestellt er "eine Portion Reispudding zum Mitnehmen" und küsst zwei Ladys auf die Stirn. Das alles dauert kaum länger als eine halbe Stunde. Aber er hat viele Freunde gewonnen, hat von Fairness und Gerechtigkeit geredet. Und er hat versichert, das sehe "der Präsident genauso leidenschaftlich wie ich".

Biden nennt sich selbst "einen Fingerspitzen-Politiker". Er will die Menschen berühren, er braucht Nähe. Aus der Ferne belächeln ihn viele als "Pannen-Joe", als einen, den die Talkmaster in den Night-Shows regelmäßig bespötteln. Als 2009 George W. Bush abtrat, bedauerte das eher konservative Lästermaul Jay Leno, nun brächen für ihn karge Zeiten an: "Über Obama kann man nicht so einfach Witze machen." Kurze Pause, ehe Leno erleichtert aufatmete: "Aber deshalb hat uns Gott Joe Biden geschenkt."

Dieses Image trägt dazu bei, dass Biden nicht sonderlich populär ist. 41 Prozent der Amerikaner mögen ihn, 44 Prozent mögen ihn nicht. Sie kennen nur "Mo Joe", den öffentlichen Politiker. In Washingtons Hinterzimmern, im Politbetrieb etwa des Kongresses, genießt der Vize-Präsident weit mehr Respekt. Wann immer Obama den Republikanern irgendeinen Kompromiss abringen musste, schickte er seinen Stellvertreter. Nicht alles gelang. Aber es war Biden, der dem Kongress 2010 eine Einigung im Steuerstreit andiente, der dem Senat die Zustimmung zum Raketen-Abrüstungsvertrag mit Russland schmackhaft machte und der voriges Jahr jenen Notkompromiss vermittelte, der die Nation vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrte.

Berater zu allen Weltfragen

Die wichtigen Dinge erledigt er unsichtbar, als Berater zu allen Weltfragen. Ehe Biden 2008 einwilligte, als Obamas Vize anzutreten, hatte er Einfluss verlangt: "Bei wichtigen Entscheidungen will ich der Letzte sein, der mit dir im Raum bleibt." Obama hielt Wort. Irak, arabischer Frühling, Nato - Biden war immer dabei. "Wenn Panetta und Clinton dann gehen", so erzählt eine hochrangige Beraterin von Treffen mit dem Verteidigungsminister und mit der Außenministerin, "bleibt Biden da".

Die Nummer zwei kämpft natürlich auch für sich. Bidens Traum ist, einmal die Nummer eins zu sein: 2016 will er sich um die Präsidentschaft bewerben. Es wäre sein dritter Anlauf, und er stößt auf Skepsis. Im Weißen Haus sagen alle, dass Obama ohne Joe Biden nicht auskommt. Aber Biden ohne Obama - das ginge wohl auch nicht.

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SZ vom 06.09.2012/mike/rus
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