US-Präsident Donald Trump:Weil es einfach nicht sein durfte

Donald Trump Holds Campaign Rally In Panama City Beach, Florida

Wahlkampf des Republikaners in Florida: Die Anzahl der euphorisierten Trump-Unterstützer bei seinen Auftritten unter freiem Himmel war damals schon ein deutliches Zeichen für den Stimmungsumschwung im Land.

(Foto: AFP)

Der Wahlsieg von Donald Trump war für viele ein Schock. Ein Jahr danach fragt sich unser Autor, wieso er als US-Korrespondent diese Zeitenwende nicht hat kommen sehen.

Von Matthias Kolb

Im Jahr 1946 schrieb George Orwell einen bemerkenswerten Satz: "Zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, bedarf eines ständigen Kampfes." An diese Worte denke ich oft, wenn es um Donald Trump geht, dem vor einem Jahr das scheinbar Unmögliche gelang: Er wurde zum 45. US-Präsidenten gewählt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Welt nun eine andere ist. Dieser Wahlsieg ist eines jener Ereignisse, bei dem wohl noch jeder weiß, wo er die Nachricht erfuhr und welche Gefühle das auslöste.

Ich habe 18 Monate lang über den Präsidentschaftswahlkampf 2016 berichtet und Trump 15 Mal live gesehen - von einem Auftritt in einer Turnhalle in Sioux City, Iowa im Herbst 2015 (damals lachten alle Reporter über seine Sprüche) bis zur ersten Pressekonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel im Weißen Haus im März 2017. Zurück in Deutschland höre ich bis heute drei Fragen: "Hast du gedacht, dass Trump gewinnen kann?", "Wie war es, über Trump zu berichten?" und "Wann beginnt das Impeachment?"

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Die Antworten auf die letzten beiden Fragen sind simpel ("Verrückt, aufregend, anstrengend" und "Wenn überhaupt, dann dauert es viel länger, als die meisten Europäer es sich wünschen"), doch bei der ersten wird es schwerer. Ich habe in keinem Text klar geschrieben, dass dieser Milliardär ohne politische Erfahrung und mit Dutzenden dokumentierten Lügen Nachfolger von Barack Obama wird. Stattdessen: Ja, es wird knapp, aber am Ende setzt sich Hillary Clinton dank ihres Teams aus hochbezahlten Daten-Analysten und Beratern schon in den entscheidenden swing states durch. "Sicher ist nichts", das war die mutigste Formulierung am Vorabend der Abstimmung.

Die Härte des Alltags und die Ungerechtigkeit waren unübersehbar

Der Satz von Orwell beschäftigt mich, weil viele Anzeichen für Trumps Sieg eigentlich unübersehbar waren. Obamas Wiederwahl 2012 überdeckte nur, dass es in der US-Gesellschaft brodelte und die soziale Ungleichheit zunahm. "Kein Land verwöhnt seine Milliardäre mehr als die USA", sagte schon Ende 2012 der Politologe Jacob Hacker im SZ-Interview und belegte, dass der American Dream für viele zur Floskel verkommen war: "Die Mittelklasse muss seit 15 Jahren miterleben, dass ihre Löhne stagnieren, während die Kosten für Wohnraum und Hochschulbildung dramatisch steigen".

Auch Studenten und junge Amerikaner zweifeln seit längerem daran, dass es ihnen so gut gehen wird wie ihren Eltern - von einer Verbesserung ganz zu schweigen. Viele mochten Obama und dessen "Change"-Botschaft weiterhin, doch dass Hillary Clinton für positiven Wandel sorgen könnte, daran glaubten Aktivisten wie Veronica Tessler aus Iowa nicht. Sie hatte, wie viele Uni-Absolventen, Zehntausende Dollar Schulden und war begeistert von Bernie Sanders, hinter dessen Slogan einer "politischen Revolution" der Wunsch nach einem gerechteren Amerika mit Mutterschutz und höherem Mindestlohn stand.

Für Veränderung stand 2016 stets der Kandidat, der gegen Clinton antrat, in den Vorwahlen Sanders, in der Präsidentschaftswahl Trump. Sexismus spielte im Wahlkampf täglich ebenso eine Rolle (Republikaner trugen stolz die unsäglichen "Trump-that-Bitch"-Shirts) wie die Wut auf die Washingtoner Eliten (die Clinton als ehemalige First Lady eben verkörperte). Egal wie die Umfragen standen: Die Begeisterung für den Republikaner Trump war stets um ein Vielfaches größer als der Enthusiasmus für Clinton.

Als ich Anfang November 2016 mit knapp 20 000 euphorischen Leuten auf einem Feld in North Carolina stehe, halte ich Trumps Sieg plötzlich für möglich. Aber dann fällt mir ein, dass ich 2012 in Ohio ähnlich viele frierende Republikaner mit "Romney"-Schildern gesehen hatte (sie riefen wütend "Do your job about Benghazi" in Richtung der Reporter) - und dann gewann Obama locker. Amerika war damals schon polarisiert. Warum sollte es dieses Mal anders kommen?

Die Sicht der Trump-Fans auf die Welt bleibt schwer begreiflich

Indizien gab es mehr als genug, Daten, aber auch persönliche Eindrücke. Doch all diese Zeichen setzten sich im Kopf nicht zum großen Ganzen (Trump wird gewinnen, weil er in diese Zeit passt) zusammen. 2012 hatten die USA doch Obama wiedergewählt! Der erste schwarze Präsident war kein Zufall, sondern wurde von einer Mehrheit bestätigt. Aber konsequent zu Ende gedacht habe auch ich das nicht: Weil das Szenario "Trump im Weißen Haus" einfach nicht sein durfte.

Dass Trump, dessen Aufmerksamkeitsspanne nur wenige Minuten beträgt, wirklich Präsident werden könnte, war unvorstellbar für jemanden, der sich täglich mit Politik beschäftigt. Seit Jahren hatte ich argumentiert, dass man US-Parteien nicht nach deutschen Maßstäben messen dürfe und beschrieben, wie Milliardäre und Firmen durch Spenden das System in eine Oligarchie verwandeln. In Europa wird stets unterschätzt, welche Rolle Religion in der amerikanischen Gesellschaft spielt (die Pro-Abtreibung-Haltung macht Demokraten für viele Christen unwählbar) und ich hatte immer wieder die Verachtung für Hillary Clinton skizziert.

Dass dieser Hass aber groß genug war, Trump für Millionen Wähler als geringeres Übel erscheinen zu lassen, wurde allgemein unterschätzt. Dabei hatte ich nach dem "Grab them by the pussy"-Video sogar mit Wählerinnen im konservativen Bundesstaat Indiana gesprochen, die Trumps Macho-Prahlerei mit "Ich habe schon viel Schlimmeres gehört" kommentierten, auf Monica Lewinsky verwiesen und über Bill Clintons angebliche Vergewaltigungen schimpften. Wie falsche Informationen in das entsprechende Weltbild integriert werden, hatte ich eigentlich durch intensiven Konsum von Fox News mitbekommen - und auf Facebook.

Nachdem ich im Frühjahr eine Gruppe von Trump-Fans in Pennsylvania kennengelernt hatte, las ich in deren geschlossenen Facebook-Gruppen mit. Ob hier die Anzeigen der russischen Trolle zu sehen waren? Keine Ahnung, aber die Meinungen waren geformt. Hier herrschte wochenlang Euphorie und zu allen Aktionen meldeten sich Dutzende Freiwillige. Sie glaubten fest an Trumps Sieg; ich konnte mir das ebenso wenig vorstellen wie die große Mehrheit der Journalisten. David Remnick, Chef des legendären New Yorker, gestand kürzlich dem Magazin Esquire: "Unser Team hatte nichts für einen Trump-Sieg vorbereitet."

Brexit als Vorbote oder: Hinterher ist man immer schlauer

Rückblickend wirkt die kollektive "Trump ist ungeeignet, also wird er nicht Präsident"-Haltung noch seltsamer, weil der Sensation des 8. November der Brexit vorangegangen war. Riesig war der Schock im Juni 2016, denn es passierte ja zuhause, in der EU. Für mich und die "Generation Erasmus" war Europa stets positiv. Gewiss: Brüssel ist als Sündenbock auch für deutsche Politiker beliebt, aber natürlich würde es weitergehen mit der Integration. Während nachts ausgezählt wurde, schrieb ich von Washington aus in den SZ-Liveblog, wie immer mehr britische Regionen für den Austritt aus der EU votierten.

Heute stellt jeder Brexit und Trumps Sieg in eine Reihe, aber im Herbst 2016 war das zumindest in Europa nicht der Konsens. Wobei: Die meisten Republikaner sahen das genauso. Sobald sie erfuhren, dass ich aus Europa komme, schwärmten sie vom Brexit und davon, wie clever die Briten seien, "sich ihr Land zurückzuholen". Ich erinnere mich, damals vor allem eines gedacht zu haben: "Ach, die Amerikaner verstehen nicht, wie einzigartig die EU ist, das konnte ich ihnen noch nie erklären." Nach dem Brexit-Votum wäre bei der US-Wahl mehr Skepsis gegenüber Umfrage-Instituten nötig gewesen, aber: 2012 hatte der Statistik-Guru Nate Silver doch richtig mit seinen Prognosen gelegen.

Als monday morning quarterback bezeichnet man in den USA jemand, der nach dem Spieltag der Football-Liga genau weiß, wieso das Team verloren hat und welche Fehler gemacht wurden. Nach dem 8. November 2016 sagt es sich leicht: Natürlich hatte Trump beste Siegchancen, die Kategorien für die eigenen Prognosen waren falsch, weil Journalisten und Experten zu sehr in ihren elitären Blasen leben (nur sieben Prozent der Reporter bezeichnen sich als konservativ).

Der Brexit hat doch gezeigt, wie wirksam Lügen sein können (jener rote Bus mit der Behauptung "Jede Woche 350 Millionen Pfund fürs Gesundheitssystem NHS") und dass fact checking jene nicht erreicht, deren Weltbild gefestigt ist und Medien wie der BBC nicht länger vertrauen. Und ja, wie stark das Thema Einwanderung viele Wähler emotional aufwühlt, ließ sich nach dem britischen Referendum nicht mehr übersehen. Eigentlich.

Ein Jahr nach seinem Wahlsieg steht fest, dass Trump nicht nur das politische Washington mit seiner Rhetorik, den ständigen Beleidigungen und seinem Freund-Feind-Denken verändert hat. Die Stimmung in den USA ist angespannt, laut einer aktuellen Studie klagen 63 Prozent der US-Amerikaner über Stressgefühle und sind wegen der aktuellen Lage beunruhigt. Die Stellung der USA auf der globalen Bühne ist geschwächt (mehr hier), was zumindest in Europa zur Verunsicherung beiträgt.

Und zweifellos trägt Trumps Auftreten als "Anti-Establishment"-Kandidat und sein ständiges Schimpfen auf politische Korrektheit dazu bei, dass in Deutschland der Diskurs rauer wird und gerade die AfD den politischen Gegner als "linksgrün versifft" bezeichnet. Als ich kurz vor der Bundestagswahl AfD-Sprecher Jörg Meuthen in München "Deutschland ist unser Land, da gelten unsere Regeln" sagen höre, da ist die Erinnerung an Trump-Auftritte und das rückwärtsgewandte "Make America Great Again" spürbar.

Das Orwell-Zitat steht übrigens im Essay "In Front of Your Nose", der 1946 erschien. Orwell, der als Korrespondent über den Spanischen Bürgerkrieg schrieb und im Zweiten Weltkrieg für die BBC arbeitete, schreibt darin auch einen gerade für Journalisten wahren Satz: "In der Politik sind Prognosen fast immer falsch." In meinen Augen besteht Orwells "Kampf" vor allem darin, die eigenen Annahmen stärker und regelmäßiger zu hinterfragen. Mehr Skepsis gegenüber Gewissheiten, mehr Bereitschaft zum Zuhören.

Dies gilt für jeden Bürger, aber Wissenschaftler und Reporter sind besonders gefordert. Arlie Russell Hochschild lehrt an der Elite-Uni Berkeley und ist jahrelang von Kalifornien ins konservative Louisiana gereist, um mit Tea-Party-Anhängern zu sprechen. Ihr Buch "Fremd im eigenen Land" ist auch auf Deutsch erhältlich. Darin beschreibt die Soziologin nicht nur, dass sich viele weiße Trump-Wähler verraten fühlen ("Sie strengen sich an, kommen aber in der Warteschlange in Richtung American Dream nicht voran - und dann winkt Obama Latinos, Schwarze und Einwanderer einfach nach vorne"). Sie schildert auch deren komplexe Biografien. In Louisiana hält längst nicht jeder den Klimawandel für eine Erfindung, doch Jobs sind nahezu allen wichtiger. Die Überheblichkeit vieler Liberaler treibt seit Jahren Menschen im konservativen "Fly-Over-Country" zu den Republikanern.

Vom Nutzen eines Tagebuchs in unruhigen Zeiten

Hochschild spricht von einer "Empathie-Mauer", die es zu überwinden gilt: Zu wenige Liberale haben Kontakt zu Konservativen und sie sehen in ihnen keine Mitbürger, sondern Gegner. Andersherum gilt es genauso. Wenn eine gemeinsame Basis fehlt, sind Gespräche schwer - und wer das Gegenüber nicht ernst nimmt, der geht mit Fakten gegen Emotionen vor und hat schon verloren, wie die Debatte rund um Einwanderung bei Brexit und Trump zeigt.

Orwell gibt in seinem Essay noch einen Tipp, der gut zur Ära Trump passt: Man soll ein Tagebuch führen und die wichtigsten Gedanken über die gegenwärtigen Ereignisse notieren. Dies hilft nicht nur, um bestimmte Narrative (dieses neumodische Wort verwendet der Stilist Orwell nicht), die sich über wichtige Ereignisse etablieren, zu hinterfragen.

Ein Tagebuch wird es auch ermöglichen, sich irgendwann an all die irren Vorfälle und Aussagen von Präsident Trump sowie die Reaktionen darauf zu erinnern, denen heute kaum jemand mehr folgen kann. Es sind besondere Zeiten, die wir durchleben, und es ist wichtiger denn je, die Augen offen zu halten.

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