Im Jahr 1946 schrieb George Orwell einen bemerkenswerten Satz: "Zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, bedarf eines ständigen Kampfes." An diese Worte denke ich oft, wenn es um Donald Trump geht, dem vor einem Jahr das scheinbar Unmögliche gelang: Er wurde zum 45. US-Präsidenten gewählt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Welt nun eine andere ist. Dieser Wahlsieg ist eines jener Ereignisse, bei dem wohl noch jeder weiß, wo er die Nachricht erfuhr und welche Gefühle das auslöste.
Ich habe 18 Monate lang über den Präsidentschaftswahlkampf 2016 berichtet und Trump 15 Mal live gesehen - von einem Auftritt in einer Turnhalle in Sioux City, Iowa im Herbst 2015 (damals lachten alle Reporter über seine Sprüche) bis zur ersten Pressekonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel im Weißen Haus im März 2017. Zurück in Deutschland höre ich bis heute drei Fragen: "Hast du gedacht, dass Trump gewinnen kann?", "Wie war es, über Trump zu berichten?" und "Wann beginnt das Impeachment?"
Zum Jahresende präsentieren wir die Lieblingstexte der Redaktion, die 17 aus 2017. Alle Geschichten finden Sie auf dieser Seite.
Die Antworten auf die letzten beiden Fragen sind simpel ("Verrückt, aufregend, anstrengend" und "Wenn überhaupt, dann dauert es viel länger, als die meisten Europäer es sich wünschen"), doch bei der ersten wird es schwerer. Ich habe in keinem Text klar geschrieben, dass dieser Milliardär ohne politische Erfahrung und mit Dutzenden dokumentierten Lügen Nachfolger von Barack Obama wird. Stattdessen: Ja, es wird knapp, aber am Ende setzt sich Hillary Clinton dank ihres Teams aus hochbezahlten Daten-Analysten und Beratern schon in den entscheidenden swing states durch. "Sicher ist nichts", das war die mutigste Formulierung am Vorabend der Abstimmung.
Die Härte des Alltags und die Ungerechtigkeit waren unübersehbar
Der Satz von Orwell beschäftigt mich, weil viele Anzeichen für Trumps Sieg eigentlich unübersehbar waren. Obamas Wiederwahl 2012 überdeckte nur, dass es in der US-Gesellschaft brodelte und die soziale Ungleichheit zunahm. "Kein Land verwöhnt seine Milliardäre mehr als die USA", sagte schon Ende 2012 der Politologe Jacob Hacker im SZ-Interview und belegte, dass der American Dream für viele zur Floskel verkommen war: "Die Mittelklasse muss seit 15 Jahren miterleben, dass ihre Löhne stagnieren, während die Kosten für Wohnraum und Hochschulbildung dramatisch steigen".
Auch Studenten und junge Amerikaner zweifeln seit längerem daran, dass es ihnen so gut gehen wird wie ihren Eltern - von einer Verbesserung ganz zu schweigen. Viele mochten Obama und dessen "Change"-Botschaft weiterhin, doch dass Hillary Clinton für positiven Wandel sorgen könnte, daran glaubten Aktivisten wie Veronica Tessler aus Iowa nicht. Sie hatte, wie viele Uni-Absolventen, Zehntausende Dollar Schulden und war begeistert von Bernie Sanders, hinter dessen Slogan einer "politischen Revolution" der Wunsch nach einem gerechteren Amerika mit Mutterschutz und höherem Mindestlohn stand.
Für Veränderung stand 2016 stets der Kandidat, der gegen Clinton antrat, in den Vorwahlen Sanders, in der Präsidentschaftswahl Trump. Sexismus spielte im Wahlkampf täglich ebenso eine Rolle (Republikaner trugen stolz die unsäglichen "Trump-that-Bitch"-Shirts) wie die Wut auf die Washingtoner Eliten (die Clinton als ehemalige First Lady eben verkörperte). Egal wie die Umfragen standen: Die Begeisterung für den Republikaner Trump war stets um ein Vielfaches größer als der Enthusiasmus für Clinton.
Als ich Anfang November 2016 mit knapp 20 000 euphorischen Leuten auf einem Feld in North Carolina stehe, halte ich Trumps Sieg plötzlich für möglich. Aber dann fällt mir ein, dass ich 2012 in Ohio ähnlich viele frierende Republikaner mit "Romney"-Schildern gesehen hatte (sie riefen wütend "Do your job about Benghazi" in Richtung der Reporter) - und dann gewann Obama locker. Amerika war damals schon polarisiert. Warum sollte es dieses Mal anders kommen?
Die Sicht der Trump-Fans auf die Welt bleibt schwer begreiflich
Indizien gab es mehr als genug, Daten, aber auch persönliche Eindrücke. Doch all diese Zeichen setzten sich im Kopf nicht zum großen Ganzen (Trump wird gewinnen, weil er in diese Zeit passt) zusammen. 2012 hatten die USA doch Obama wiedergewählt! Der erste schwarze Präsident war kein Zufall, sondern wurde von einer Mehrheit bestätigt. Aber konsequent zu Ende gedacht habe auch ich das nicht: Weil das Szenario "Trump im Weißen Haus" einfach nicht sein durfte.
Dass Trump, dessen Aufmerksamkeitsspanne nur wenige Minuten beträgt, wirklich Präsident werden könnte, war unvorstellbar für jemanden, der sich täglich mit Politik beschäftigt. Seit Jahren hatte ich argumentiert, dass man US-Parteien nicht nach deutschen Maßstäben messen dürfe und beschrieben, wie Milliardäre und Firmen durch Spenden das System in eine Oligarchie verwandeln. In Europa wird stets unterschätzt, welche Rolle Religion in der amerikanischen Gesellschaft spielt (die Pro-Abtreibung-Haltung macht Demokraten für viele Christen unwählbar) und ich hatte immer wieder die Verachtung für Hillary Clinton skizziert.
Dass dieser Hass aber groß genug war, Trump für Millionen Wähler als geringeres Übel erscheinen zu lassen, wurde allgemein unterschätzt. Dabei hatte ich nach dem "Grab them by the pussy"-Video sogar mit Wählerinnen im konservativen Bundesstaat Indiana gesprochen, die Trumps Macho-Prahlerei mit "Ich habe schon viel Schlimmeres gehört" kommentierten, auf Monica Lewinsky verwiesen und über Bill Clintons angebliche Vergewaltigungen schimpften. Wie falsche Informationen in das entsprechende Weltbild integriert werden, hatte ich eigentlich durch intensiven Konsum von Fox News mitbekommen - und auf Facebook.
Nachdem ich im Frühjahr eine Gruppe von Trump-Fans in Pennsylvania kennengelernt hatte, las ich in deren geschlossenen Facebook-Gruppen mit. Ob hier die Anzeigen der russischen Trolle zu sehen waren? Keine Ahnung, aber die Meinungen waren geformt. Hier herrschte wochenlang Euphorie und zu allen Aktionen meldeten sich Dutzende Freiwillige. Sie glaubten fest an Trumps Sieg; ich konnte mir das ebenso wenig vorstellen wie die große Mehrheit der Journalisten. David Remnick, Chef des legendären New Yorker, gestand kürzlich dem Magazin Esquire: "Unser Team hatte nichts für einen Trump-Sieg vorbereitet."