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US-Kritik an Berlin vor dem Nato-Gipfel:"Ein schwaches Deutschland schwächt auch die Allianz"

Verstecken sich die Deutschen hinter Hitler? So will es Nicholas Burns, ehemaliger US-Spitzendiplomat, im SZ-Interview zwar nicht ausdrücken. Und doch verlangt er vor dem Nato-Gipfel am Wochenende mehr militärische Führung von der Bundesrepublik. Trotz seiner Geschichte dürfe Deutschland sein wahres Gewicht nicht verbergen - und müsse die Bundeswehr stärken.

Christian Wernicke, Washington

Unmittelbar vor dem Nato-Gipfel in Chicago dringt schrille Kritik nach Berlin: Deutschland agiere international wie eine "verlorene Nation", bemängelt eine Denkschrift des Atlantic Council. Die einflussreiche Denkfabrik, in deren Beirat führende Außenpolitiker aus beiden großen US-Parteien sitzen, warnt, ein "schwaches Deutschland" untergrabe Nato wie Europa. Verfasst hat die Studie Nicholas Burns, Harvard-Professor für Internationale Beziehungen und früherer Spitzendiplomat, der vor zehn Jahren als US-Botschafter bei der Nato in Brüssel diente.

SZ: Barack Obama hat laut verkündet, Amerika solle eine "Wende nach Asien" vollziehen. Wird Europa unwichtig?

Nicholas Burns: Nein, die Vereinigten Staaten müssen sich neu um Europa bemühen, wir müssen reinvestieren in diese Beziehung - gerade weil die große strategische Herausforderung der Aufstieg Chinas ist. Aber während die USA sich aus gutem Grund Asien zuwenden, dürfen wir uns nicht von Europa abwenden, es nicht vergessen.

SZ: Hinwendung ohne Abwendung - das klingt nach Verrenkung.

Burns: Amerika und Europa müssen diese Wende nach Asien gemeinsam vollziehen. Europa bleibt Amerikas größter Handelspartner, Europa bleibt der größte Investor in den USA, und Europa beheimatet Amerikas engste Verbündete - 26 Nationen sind Nato-Alliierte. Zugegeben, so manches Geraune bei uns hat den Eindruck geschürt, wir würden uns abkehren. Aber Amerika braucht Europa - jeden Tag!

SZ: Robert Gates, der damalige Verteidigungsminister, hat die Europäer bei seinem Abschied vor einem Jahr gewarnt, sie täten zu wenig. Der Nato drohe eine "trübe, wenn nicht düstere Zukunft".

Burns: Ja, und genau diese Zukunft wollen wir vermeiden. Europa muss global denken und handeln, trotz all seiner Probleme etwa mit der Euro-Krise. Denn Europa hat weltweite Interessen- im Nahen Osten, in Südostasien, in Ostasien. Also muss Europa den Willen, den Ehrgeiz und auch die militärischen Fähigkeiten haben, um gemeinsam mit den USA zu agieren und Frieden in diese Regionen der Welt zu bringen. Wir brauchen ein stärkeres Europa - und ein Europa, das mehr in seine Sicherheit investiert. Seit fast vier Jahrzehnten verlangt die Nato, die Alliierten sollten wenigstens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Nur drei Verbündete tun das, allen voran die USA mit 4,4 Prozent. Aber Deutschland leistet gerade einmal 1,3 Prozent.

SZ: Ihr Report liest sich, als zielten Sie vor allem auf Berlin. Sie schreiben sogar, Deutschland sei "eine verlorene Nation".

Burns: Da zitieren wir einen überaus hochrangigen Nato-Vertreter. Deutschland ist der Schlüsselstaat des Kontinents, es führt Europa. Aber während Berlin Europa wirtschaftlich lenkt, scheut es die politische und auch militärische Führung, die die Nato so dringend braucht. Ein schwaches Deutschland schwächt auch die Allianz.

SZ: Skeptiker in Deutschland deuten Ihren Appell vorrangig als Forderung nach mehr Geld. Derweil würden deutsche Milliarden gerade den Euro retten und eine Weltwirtschaftskrise abwenden.

Burns: Ok, es geht auch um Geld. Denn Deutschland gibt zu wenig aus, um die Bundeswehr so auszurüsten, wie die Nato sie braucht. Und ja, die Überwindung der Eurokrise ist der wichtigste Job der deutschen Regierung. Aber: Es steht weit mehr auf dem Spiel als Geld - vor allem geht es um Führung. Deutschland ist eines der wichtigsten Länder der Welt. Es ist, zumindest ökonomisch, eine regionale Führungsmacht - aber es ist beileibe keine globale Macht. Aber im globalen Zeitalter brauchen wir ein Deutschland, das global denkt, und das auch führt. Und sorry, ich muss da an das deutsche Votum zu Libyen erinnern. Die Arabische Liga und die Vereinte Nationen riefen zur Intervention auf - und Deutschland enthält sich? Da geht es um politischen Willen und Vision, nicht um Geld.

SZ: Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle lobt auch nach Libyen die "deutsche Kultur militärischer Zurückhaltung". Das sei eine Lektion der Geschichte.

Burns: Ich verstehe das sehr wohl. Das war auch richtig nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur, das liegt mehr 60 Jahre zurück. Heute haben sich die Deutschen als zutiefst überzeugte Demokraten bewiesen, als Europäer, als Atlantiker. In den fünfziger Jahren mögen viele Nachbarländer ein erstarkendes Deutschland gefürchtet haben. Aber heute erleben wir, dass der polnische Außenminister Radek Sikorski sagt: "Wir glauben an euch, wir vertrauen eurer Demokratie - wir wollen ein stärkeres Deutschland!" Dasselbe sagen Dutzende Amerikaner, die unseren Bericht namentlich gebilligt haben. In all unseren Gesprächen über sieben Monate habe ich nicht eine einzige Stimme vernommen, die gesagt hätte, die Bundesrepublik solle sein Gewicht verbergen. Deutschland ist ein normales Land.

SZ: Haben die Deutschen also mehr Angst vor sich selbst - verstecken wir uns hinter Hitler?

Burns: So möchte ich das nicht formulieren. Ich bewundere, wie die Deutschen ihren Kindern die Wahrheit über die eigene Vergangenheit vermittelt haben - anders als etwa Japan. Deshalb gibt es ja dieses tiefe Vertrauen in Deutschland heute. Unser einziger Wunsch ist: Zeigt Ambitionen und Verantwortung, wie sie eurem Gewicht entsprechen. Da erwarten wir Amerikaner vielleicht mehr von den Deutschen als die Deutschen von sich selbst.

SZ: Ihr Report lobt, Kanzler Gerhard Schröder habe 2001 sein Überleben daran geknüpft, dass der Bundestag den Bundeswehreinsatz in Afghanistan billigte. Aber 2011, als es um Libyen ging, habe Berlin abseits gestanden. Ist das auch eine Kritik an Kanzlerin Merkel?

Burns: Nein, ich will mich nicht in deutsche Parteipolitik einmischen. Das deutsche Problem ist doch systemisch - und parteiübergreifend: Alle Ihre Parteien verweigern der Bundeswehr die Mittel, die nötig wären, damit Deutschland seine Rolle und seine Verantwortung in der Nato und in der Welt wahrnehmen kann. Genauso haben die meisten Parteien es doch mitgetragen, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan scharfen Restriktionen zu unterwerfen. Das ist ein Muster.

SZ: Also ist Deutschland immer noch wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg?

Burns: So sagen wir es nicht. Aber eine große Macht, wie es Deutschland heute nun mal ist, muss in der Lage sein, gleichzeitig seine wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen und Aufgaben zu erfüllen. Auch wir Amerikaner haben unsere Probleme - Arbeitslosigkeit und hohe Staatsschulden. Und auch wir müssen lernen, uns unserer Verantwortung zu stellen.

SZ: Reden Europas und Amerikas Regierungen eigentlich noch offen miteinander? Washington erwartet, dass die Europäer mehr für die eigene Verteidigung ausgeben - im Gegenzug hoffen die Europäer vergeblich, dass die Weltmacht endlich mehr für den Klimaschutz tut. Das erinnert an ein altes Ehepaar, das sich keine Fragen mehr stellt, weil es die stets enttäuschenden Antworten nicht mehr hören will.

Burns: Zugegeben, die Deutschen und die Europäer haben alles Recht, die USA zu mehr Klimaschutz zu drängen. Europa geht da beharrlich voran. Nur, wir Amerikaner führen die Nato-Allianz seit über 60 Jahren, wir haben dafür stets mehr Geld ausgegeben als unsere Partner. Jetzt aber stecken wir selbst in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wir müssen über zehn Jahre 450 Milliarden Dollar in unserem Verteidigungshaushalt einsparen. Also brauchen wir jetzt europäische Opfer, um die Stärke der Allianz zu bewahren. Europa muss diese Herausforderung annehmen. Die Zeiten, da die USA alle diese Kosten tragen, sind vorbei.

SZ: Eine eher kühne Forderung in Ihrem Report lautet, die Türkei solle den nächsten Nato-Generalsekretär stellen. Das dürfte die Liebe Westeuropas zur Allianz kaum schüren.

Burns: Westeuropa muss anerkennen, dass die Türkei die einzige aufsteigende Macht in Europa ist. Die Türkei ist Nato-Mitglied seit 1952, und sie wurde von den größeren Nato-Ländern immer in die zweite Liga verwiesen. Heute gehört die Türkei in die Führungsriege, seine schiere Macht verlangt das. Persönlich glaube ich sogar, dass die Türkei im Nahen und Mittleren Osten heute mehr Einfluss hat als etwa Deutschland. Die Türkei stärkt die Nato - und wir sollten das honorieren.

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