"Kill Team" in Afghanistan:Ein neues Abu Ghraib?

Auf einer US-Militärbasis nahe Seattle beginnt der Mordprozess gegen Jeremy Morlock. Ihm wird vorgeworfen, Teil eines "Kill Team" in Afghanistan gewesen zu sein: Die Soldaten sollen aus Spaß Zivilisten getötet haben - und posierten grinsend neben den Leichen. Die schockierenden Bilder, veröffentlicht im aktuellen "Spiegel", erinnern an Abu Ghraib. Und bergen Sprengkraft ungeahnten Ausmaßes.

Matthias Kolb

Ein amerikanischer Soldat steht über einem leblosen Körper, hebt den Kopf des Mannes hoch und grinst in die Kamera. Jeremy Morlock posiert am 15. Januar 2010, als hätte er auf der Jagd in seinem Heimatstaat Alaska ein wildes Tier erlegt und sei stolz auf diese Trophäe. Das Bild schockiert.

Kill Team

Über die Enthüllungsgeschichte des Spiegel wurde in vielen europäischen und US-amerikanischen Medien berichtet. Bekannt waren die Vorwürfe bereits seit Mai 2010, nun sind jedoch erstmals Bilder zu sehen. Sie erinnern viele an die Aufnahmen aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken.

(Foto: screenshot: Spiegel Online)

Am heutigen Mittwoch wird Jeremy Morlock vor einem US-Militärgericht im Bundesstaat Washington wegen dreifachen Mordes angeklagt, weil er mit Kameraden aus purer Lust afghanische Zivilisten getötet haben soll. Erste Berichte über dieses "Kill Team" tauchten bereits im Mai 2010 auf, doch seitdem das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe drei Bilder veröffentlicht hat und ins Netz gestellt hat, wird in vielen amerikanischen und europäischen Medien berichtet. Neben Morlock, der offenbar drei Morde gestehen will, sind vier weitere Soldaten wegen Mordes angeklagt. Acht weiteren wird dem Bericht zufolge Leichenschändung, unerlaubter Besitz von Leichenfotos, Drogenmissbrauch sowie Körperverletzung gegen Kameraden vorgeworfen.

Die Ereignisse an jenem Januar-Tag, an dem das selbsternannte "Kill Team" erstmals mordete, sind dank monatelanger Recherche zweier Spiegel-Redakteure gut dokumentiert. Die Beschuldigten gehörten der 5. Stryker-Brigade an, die im Süden Afghanistans nahe der Taliban-Hochburg Kandahar im Einsatz ist. Das Gebiet ist besonders umkämpft, die Anspannung unter den GIs groß.

Die Aufgabe der Infanteristen lautet an diesem Freitag, ein Treffen zwischen US-Offizieren und den Ältesten im Dorf La Mohammed Kalay abzusichern. Diese Begegnung ist Teil der neuen Strategie der US-Militärs, die mit mehr Soldaten einen engeren Kontakt zu den Afghanen herstellen und so Vertrauen aufbauen wollen. "Boots on the ground" nannte dies der damalige Isaf-General Stanley McChrystal. Das Verhalten der Soldaten um Jeremy Morlock am 15. Januar 2010 konterkariert diesen Ansatz.

Abklatschen nach dem Mord

Morlock winkt gegen 9:30 Uhr einen jungen Bauern heran. Der Mann nähert sich den Soldaten, hebt seine Jacke, um zu zeigen, dass er unbewaffnet ist und keine Sprengweste trägt. Plötzlich ruft Morlock "Achtung, in Deckung!", zündet eine Granate und wirft sie auf den Bauern. Der Sprengkörper explodiert, zudem fallen acht Schüsse, der Mann ist tot. Der Hintergrund dieser offenbar tagelang geplanten Aktion ist klar: Es soll so aussehen, als seien die Soldaten attackiert worden und hätten nur aus Notwehr gehandelt. "Legitimate kill", heißt dies im Jargon der US-Armee.

Im Anschluss werden die Fotos geschossen, als Trophäe wird dem toten Bauern ein Finger abgeschnitten und die jungen Amerikaner klatschen sich ab wie nach einer erfolgreichen Aktion beim Sport. Insgesamt existieren laut Spiegel 4000 Bilder, deren übergroße Mehrheit viel zu brutal sei, um sie der Öffentlichkeit zumuten zu können. Gleiches gelte für die beschlagnahmten Videos.

Die drei publizierten Aufnahmen lösen jedoch bei vielen Betrachtern schreckliche Assoziationen: Der legendäre investigative Journalist Seymour Hersh schreibt im Blog des Wochenmagazins The New Yorker: "Wir haben dieses Grinsen eines amerikanischen Soldaten, der direkt in die Kamera blickt, schon einmal gesehen: Auf den Gesichtern jener Männer und Frauen, die vor acht Jahren nackte irakische Gefangene übereinander stapelten und neben diesen Körpern posierten."

Hersh verweist neben den Folterbildern aus dem Gefängnis Abu Ghraib auch auf die Aufnahmen der entspannten US-Soldaten nach dem Massaker von My Lai in Vietnam. Hershs Berichte über My Lai veränderten die Wahrnehmung des Vietnamkriegs in der amerikanischen Öffentlichkeit.

Der 73-Jährige, der sich seit mehr als vier Jahrzehnten mit Kriegsverbrechen beschäftigt hat, äußert eine Vermutung, warum Menschen Grausamkeiten fotografieren und diese dann ihren Freunden und Kameraden zeigen. "Für die Soldaten ist das Töten normal geworden, es spielt keine Rolle, ob es im Kampf mit Taliban passiert oder als Sport in einem seltsamen Land mit einer seltsamen Sprache und mit seltsamen Traditionen." Angeblich wurden die Aufnahmen wie Panini-Sammelbilder getauscht, einzelne Körperteile wie Finger und Zähne wurden als Trophäen aufbewahrt.

Erinnerungen an Abu Ghraib

Die Folgen dieser Verrohung sind laut Hersh "abscheulich". Natürlich seien die jungen Amerikaner für ihre Gräueltaten verantwortlich, doch ähnlich wie im Vietnamkrieg könnten Soldaten auch Opfer werden. Der neue Skandal bestärkt den Journalisten in seiner Überzeugung, dass der Krieg in Afghanistan ebenso wenig "gewonnen" werden könne wie der Vietnamkrieg.

Kill Team

Diese Aufnahme, die das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe veröffentlicht und auch auf seiner Website präsentiert, zeigt den US-Soldaten Jeremy Morlock, wie er über der Leiche eines afghanischen Zivilisten stehend in die Kamera grinst. Zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken.

(Foto: screenshot: Spiegel Online)

Die Brisanz der Bilder hat die US-Regierung schnell erkannt. Die Armee spricht von "abstoßenden" Bildern, die "im Widerspruch zu den Standards und Werten der US-Armee stünden". Außenministerin Hillary Clinton und Sicherheitsberater Tom Donilon haben offenbar versucht, die Lage mit Telefonanrufen in Kabul zu beruhigen.

Auch innerhalb der Nato lösen die Bilder Sorgen aus: Isaf-Sprecher Brigadegeneral Josef Blotz sagte der Süddeutschen Zeitung am gestrigen Dienstag, die Taten der Soldaten seien "ein Rückschlag" für die Nato bei ihrem Bemühen, Stabilität nach Afghanistan zu bringen. Bislang hätten die Menschen am Hindukusch wegen der Bilder keine Reaktionen gezeigt, aber "die Geschichte ist noch nicht vom Tisch".

Der Anwalt des ebenfalls angeklagten Andrew Holmes berichtet im Spiegel von einem anderen Verhalten des Militärs: "Die U.S. Army hat mehr Zeit darauf verwendet, die Fotos geheim zu halten, als die Verbrechen aufzuklären." Dazu passt auch die Schilderung von Christopher Winfield, dessen Sohn Adam ebenfalls wegen Mordes angeklagt ist.

Detaillierte Vorbereitungen

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Diese Bilder der Angeklagten US-Soldaten Jeremy Morlock (l.) und Andrew Holmes hat die US-Armee herausgehoben.

(Foto: AFP/US Army)

Der damals 21-Jährige vertraute sich seinem Vater im Facebook-Chat an, dass seine Kameraden Morde planten und er nicht wisse, was er tun solle. Als der Vater den Vorfall von Florida aus mehreren Armee-Stellen schildert, wird er ignoriert oder vertröstet. Versprochene Rückrufe, etwa vom diensthabenden Sergeant des Heimatstützpunkts der 5. Stryker-Brigade in Fort Lewis im Bundesstaat Washington, bleiben aus.

Wegen dieser Tatenlosigkeit werden in Afghanistan weitere Zivilisten von GIs getötet. Anstifter des "Kill Team" war offenbar der 25-jährige Staff Sergeant Calvin Gibbs. Er prahlt damit, dass seine sechs Tattoos an der linke Wade für getötete Afghanen und Iraker stünden, ballert gern auf herrenlose Hunde und hat für Kameraden wie Adam Winfield, die auch mal ein Buch lesen, wenig übrig. Das Töten von Zivilisten diente dem Korpsgeist - wer sich nicht beteiligt, gilt als Feigling. Nachdem Winfield bei einer Aktion mitmacht, wird er als gleichwertig angesehen und nicht mehr erniedrigt.

Gibbs war es, der die Drehbücher verfasste, um die Morde zu vertuschen: Er soll mit afghanischen Soldaten Pornos gegen Kalaschnikows getauscht haben, um diese am Tatort neben die Zivilisten zu legen. So sollte der "legimate kill" vorgetäuscht werden. "Er liebte es zu töten", soll Adam Winfield über Staff Sergeant Gibbs gesagt haben - der es offenbar vermied, sich selbst fotografieren zu lassen.

Heraus kam das Treiben des "Kill Team", als im Mai vergangenen Jahres ein Soldat dem Kompanieführer meldete, dass auf seiner Stube Haschisch geraucht wurde. Später wurde er von Gibbs und Co. brutal verprügelt. Der Soldat weigerte sich nach der erneuten Aussage, zurück ins Zimmer zu gehen: "Ich will nicht sterben wie die Afghanen." Daraufhin wurden Dutzende Computer, Handys und Fotoapparate beschlagnahmt und die Daten sichergestellt.

Bisher haben die Bilder in muslimisch geprägten Ländern wie Pakistan, Afghanistan oder Bangladesch noch keine wütenden Demonstrationen ausgelöst. Allerdings dürfte der heute beginnende Prozess und die weltweite Berichterstattung die Verbreitung der Bilder beschleunigen.

Morlock hat sich der Anklage als Zeuge gegen vier weitere Soldaten zur Verfügung gestellt - und könnte im Gegenzug eine Haftstrafe von nur 24 Jahren erhalten. Neben den nun veröffentlichten Fotos finden sich im Netz (etwa auf der Seite des Internetmagazins Wired) auch Videos von den Verhören der US-Armee, auf denen Morlock schildert, wie willkürlich das "Kill Team" seine Opfer auswählte.

Die Folgen, so fürchtet Seymour Hersh, könnten die Amerikaner und ihre Verbündeten lange beschäftigen: "Rache muss in der afghanischen Gesellschaft nicht sofort geübt werden. Wir könnten uns in eine Situation geraten, in der wir nicht wissen, wer uns aus welchen Gründen angreift - und dies für die kommenden beiden Jahrzehnte."

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