Urwahl:Wider die Elite

Die Junge Union fordert eine Basisbefragung zur Kanzlerkandidatur. Über die Geschichte der Urwahl in der deutschen Politik.

Von Matthias Drobinski

Der Ursprung der Urwahl in Deutschland ist nur begrenzt basisdemokratisch. Im preußischen Dreiklassen-Wahlrecht, das von 1849 bis 1918 galt, konnte jeder männliche Preuße ab 24 Jahren, der die bürgerlichen Rechte besaß, und keine Armenunterstützung erhielt, direkt einen Wahlmann unterstützen; wie viel Gewicht seine Stimme hatte, hing von den Steuern ab, die er zahlte. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 sah dann die Wahl des Reichspräsidenten per Urwahl vor. Der konnte den Reichskanzler entlassen, den Reichstag auflösen, Notverordnungen erlassen. Ein persönlich so schwacher wie politisch mächtiger Reichspräsident Paul von Hindenburg trug zum Ende der Republik bei.

Die Verfassung und das politische System der Bundesrepublik misstrauen seitdem tendenziell den verschiedenen Formen der direkten Demokratie - und damit auch der Urwahl. Im Parteiengesetz ist sie nicht vorgesehen, dort bestimmen Delegierte auf Parteitagen über die Vorsitzenden und die Spitzenkandidaten bei Wahlen. Sie entscheiden sich - im Idealfall - frei und ihrem Gewissen folgend; kein Auftrag irgendeiner Basis, Interessengruppe, Lobby soll sie binden.

Je stärker die Parteien aber zeigen wollen oder müssen, dass nicht nur eine kleine Delegierten-Elite darüber entscheidet, wer die Partei oder gar das ganze Land führt, umso attraktiver erscheinen Urwahlen. 1993 befragte die SPD ihre Mitglieder, wer Vorsitzender werden sollte - Rudolf Scharping setzte sich deutlich gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch. Die Abstimmung war formal nur eine unverbindliche Empfehlung der Basis an die Delegierten des folgenden Sonderparteitags, die aber hielten sich an das Votum der Mitglieder. 19 Jahre später, im November 2012, kürten die Grünen-Mitglieder überraschend Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin zum Spitzenduo für die Bundestagswahl 2013 und straften die damalige Vorsitzende Claudia Roth ab. Beide Urabstimmungen halfen zunächst, die jeweilige Partei zu mobilisieren und zu befrieden, lange aber währte der Frieden nicht: Schon auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995 unterlag Scharping der putschartigen Kandidatur von Oskar Lafontaine. Und bei den Grünen waren 2013 nach dem für sie enttäuschenden Wahlausgang alle Debatten über den Kurs der Partei wieder da. Auch die Mitgliederbefragung der SPD, die zur Neuauflage der großen Koalition im Januar 2018 führte, beendete nicht den Streit über einen Ausstieg aus dem Bündnis mit der Union.

Nun also hat die Urwahl-Debatte auch die CDU erreicht. Neu ist hier vor allem, dass sie, anders als bei SPD und Grünen, vom konservativen Flügel der Partei befeuert wird, der auf einen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz hofft. Ganz ohne Beispiel wäre eine solche Basisbefragung nicht: 2016 entschied sich die baden-württembergische CDU-Basis für den Spitzenkandidaten Guido Wolf, sechs Jahre zuvor die NRW-CDU für den Landesvorsitzenden Norbert Röttgen. Die Halbwertszeit beider Entscheidungen war kurz: Die CDU in Baden-Württemberg holte mit Wolf ein historisch schlechtes Wahlergebnis. Und zwei Jahre nach seiner Niederlage von 2010 hatte es Armin Laschet doch geschafft - er war Landesvorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen.

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