Wenn am Sonntag Stichwahlen sind in Uruguay, dann wird das nur wenige interessieren, was einerseits verständlich ist, andererseits aber auch schade. Doch dazu gleich noch mehr.
Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Sogar in Uruguay selbst hält sich die Aufregung in Grenzen. Ja, könnte sein, dass das Rennen knapp wird. Aber was soll schon passieren? Keiner der beiden Kandidaten ist ein Hardliner, und beide sind wohlbekannt. Der Linke Yamandú Orsi regierte bisher die Provinz Canelones, der Konservative Álvaro Delgado war Senator und zuletzt die rechte Hand des amtierenden Präsidenten Luis Lacalle Pou. Überraschungen? Wird es wohl eher nicht geben.
Man kann das nun alles schrecklich langweilig finden: zwei Durchschnittskandidaten, die gemäßigte Positionen vertreten, ohne zu poltern und zu pöbeln. Nicht mal die Frisuren sind extravagant: Wie öde! Gleichzeitig kann man Uruguay aber auch als wohltuende Ausnahme sehen: ein Land, das anscheinend immun ist gegen den Populismus, der so viele Länder in Lateinamerika und im Rest der Welt ergriffen hat.
Viermal so viele Rinder wie Menschen
Wie ist das nur möglich? Uruguay ist halb so groß wie Deutschland, die gesamte Einwohnerzahl ist aber geringer als die von Berlin: 3,4 Millionen. Das sei der Schlüssel zum Erfolg, sagen manche: Es sei eben einfach, entspannte Politik zu machen in einem Land, in dem viermal so viele Rinder leben wie Menschen.
Falsch ist das nicht, aber auch nur die halbe Wahrheit. Denn es gibt Staaten in der Region, die noch kleiner sind als Uruguay: Suriname, El Salvador, Honduras. Und andere sind sogar noch dünner besiedelt: In Guyana, zum Beispiel, leben insgesamt nur etwas mehr als 800 000 Einwohner – bei einer Fläche, die dreimal so groß ist wie ganz Irland. Und dennoch: Keines dieser Länder hat eine so stabile Demokratie wie Uruguay.
Tatsächlich war das auch nicht immer so: In der Geschichte des Landes gab es Bürgerkriege und Staatsstreiche, in den 1970er-Jahren verübten linke Guerillas Terroranschläge, und 1973 putschte sich das Militär an die Macht. Oppositionelle wurden entführt, gefoltert und ermordet. Erst 1985 kehrte die Demokratie zurück.
Kandidaten beschimpfen sich kaum in der Öffentlichkeit
Viele Länder in der Region haben Ähnliches durchlebt, und manche haben in der Folge ihre Vergangenheit wesentlich besser aufgearbeitet, allen voran Argentinien. Was Uruguay unterscheidet: Dort haben die Schrecken der Diktatur zu einem breiten Konsens in Politik und Gesellschaft geführt, dass Demokratie an sich etwas Wichtiges und Schützenswertes ist. José „Pepe“ Mujica brachte das auf den Punkt: „Nadie es más que nadie“, sagte der ehemalige linke Guerillero, der 2009 die Präsidentschaftswahlen in seinem Land gewann. Auf Deutsch: Niemand ist mehr wert als jemand anderes.
Kandidaten unterschiedlicher Parteien beschimpfen sich kaum je öffentlich. Im Gegenteil: Man begegnet sich mit Respekt. Legendär ist ein Foto, das 2023 aufgenommen wurde: Es zeigt den linken Ex-Präsidenten Mujica, Arm in Arm mit einem seiner Amtsvorgänger, dem Liberalen Julio María Sanguinetti, ebenso wie mit einem seiner Nachfolger, dem Konservativen Luis Lacalle Pou. Anderswo in Lateinamerika wären solche Bilder undenkbar, zu verfeindet sind die politischen Lager.
Und während in Argentinien, Chile oder Brasilien Politiker auf der Straße beschimpft werden, können in Uruguay sogar Staatsoberhäupter ungestört einen Kaffee trinken gehen. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist groß, es gibt ein für die Region vergleichsweise gutes Sozialsystem, und der Wohlstand ist breiter verteilt als in fast allen anderen Ländern der Region.
Drogenbanden nutzen das Land als Durchgangsstation
Natürlich: Auch in Uruguay gibt es Probleme. Mehr als ein Drittel der Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss, es gab zuletzt einige Korruptionsskandale, und Drogenbanden haben das Land als strategisch gut gelegene Durchgangsstation erkannt. Die Mordrate ist in den vergangenen Jahren massiv angestiegen: Elf Tötungsdelikte pro 100 000 Einwohner im Jahr, das ist fast dreimal so viel wie zum Beispiel beim Nachbarn Argentinien.
Und auch in Uruguay gibt es darum mittlerweile populistische Politiker, die versuchen, mit dem Versprechen auf hartes Durchgreifen Stimmen zu gewinnen: Kein Pardon für Kriminelle, fordern sie. In den vergangenen Jahren hatten ähnliche Vorschläge fast überall in Lateinamerika Erfolg. Nicht so in Uruguay. So sollten die Bürger in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auch darüber abstimmen, ob die Polizei mehr Befugnisse bekommt im Kampf gegen Drogenbanden. Das Referendum scheiterte. Die wenigsten glaubten anscheinend daran, dass vermeintlich einfache Lösungen langfristig Probleme lösen können.
Ohnehin ist Zeit ein wichtiger Faktor im Land: Man nimmt sie sich und lässt sich ungern drängen. Fast überall in Lateinamerika haben in den vergangenen Jahren bei Wahlen Parteien gewonnen, die erst kurz zuvor gegründet worden waren. In Uruguay aber stehen am Sonntag die Frente Amplio und der Partido Nacional auf den Stimmzetteln: einerseits ein linkes Bündnis, das bereits seit den 1970er-Jahren existiert. Und andererseits eine Partei, die von konservativen Politikern schon kurz nach der Unabhängigkeit Uruguays gegründet wurde. Vor fast 200 Jahren.