Urteil zum Rettungsschirm ESM:Karlsruher Prügelknaben

President of German Constitutional Court Vosskuhle announces ruling on ESM and the fiscal pact in Karlsruhe

Sie sind Kritik bereits gewohnt: die Bundesverfassungsrichter und ihr Vorsitzender Andreas Voßkuhle (2.v. links)

(Foto: REUTERS)

Heute urteilt das Verfassungsgericht über den Rettungsschirm ESM. Kritik aus Berlin wird sicher folgen. Denn die Bundespolitik sieht die Gelegenheit, den Einfluss des selbstbewussten Gerichts zurückzudrängen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

An diesem Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht wieder mal ein Urteil zu Europa verkünden, es geht um den Rettungsschirm ESM. Zu erwarten sind einige Präzisierungen. Sein grundsätzliches Plazet hat das Gericht schon im Eilurteil vom September 2012 gegeben, und die zentrale Frage - die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) - hat Karlsruhe aus dem Verfahren herausgelöst und an den Europäischen Gerichtshof überwiesen. Vielleicht wird es ja diesmal wirklich ein halbwegs ruhiger Urteilstag.

Sonderlich wahrscheinlich ist das allerdings nicht. Jedenfalls haben die Richter des Zweiten Senats in den vergangenen Wochen viel Prügel einstecken müssen, nach der Entscheidung zur EZB, mehr noch aber nach dem Urteil zur Drei-Prozent-Klausel bei Europawahlen. Das ist zwar nicht ungewöhnlich nach politisch brisanten Urteilen. Doch diesmal mehren sich die Anzeichen, dass sich das Dauerfeuer zu einer Krise verfestigt. Nahezu gleichlautende Vorwürfe gab es ja bereits nach dem Urteil zu den Überhangmandaten vom Sommer 2012, zudem wurde das Gericht wegen der Aufwertung der Rechte Homosexueller heftig angegangen - natürlich von der Union, der das nicht ins Weltbild passt.

Vor allem die Union kritisiert Gerichtspräsident Voßkuhle

Im Zweiten Senat herrscht jedenfalls große Anspannung. Auch, weil die Tonlage rauer wird. Norbert Lammert (CDU) wirft dem Gericht Europa-Skeptizismus vor, Volker Kauder bittet sich Rücksichtnahme aus, sogar Renate Künast (Grüne) mosert. Bemerkenswert ist zudem, dass der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier jegliche Zurückhaltung aufgibt, mit der Pensionäre sonst Urteile der Kollegen kommentieren: Er halte den Spruch zur Drei-Prozent-Klausel "weder im Ergebnis noch in der Begründung für richtig".

Der Tenor der Kritik lautet: Das Bundesverfassungsgericht missachte den Grundsatz der richterlichen Selbstbeschränkung und enge den Spielraum des Parlaments unangemessen ein. Die Personifizierung dieser Entwicklung ist - so sieht man es in Berlin und Brüssel - der Präsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle. Namentlich der Union ist es gelungen, den Topos vom selbstbewussten, allzu politischen Chefrichter im öffentlichen Diskurs zu etablieren. Zwar hat Voßkuhle mit ein paar unglücklichen Auftritten in Berlin selbst zu diesem Image beigetragen. Schaut man sich allerdings die von den Parteien gegeißelte Rechtsprechung zum Thema Wahlrecht an, so muss man sagen: An der Kritik ist mehr falsch als richtig.

Beim Wahlrecht muss das Gericht besonders intensiv kontrollieren

Erstens: Nicht Voßkuhle hat die Drei-Prozent-Klausel bei Europawahlen gekippt, sondern der Zweite Senat. Zwar hat er mit der Senatsmehrheit gestimmt, maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis dürfte allerdings der zuständige Berichterstatter Michael Gerhardt gehabt haben; noch in der Verhandlung wirkte Voßkuhle - anders als sonst - eher unentschieden.

Zweitens: Das Ende der Drei-Prozent-Klausel ist nicht vom Himmel gefallen. Die Karlsruher Skepsis gegen Sperrklauseln - die letztlich einen Teil der Wählerstimmen vernichtet - hat tiefe Wurzeln. Schon 1952 ließ das Gericht erkennen, dass solche Hürden unter einem Vorbehalt stehen. 1990 wiederholten die Richter, dass "die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann". Und als Karlsruhe 2011 die Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen für unzulässig erklärte, ließ das Gericht wenig Spielraum für kleinere Hürden. Indem der Bundestag gleichwohl ohne Schamfrist eine Drei-Prozent-Hürde dekretiert hat, ist er also nicht unvorbereitet in die Niederlage gelaufen.

Damit verstärkt sich der Eindruck, dass der Streit ums Wahlrecht in Wahrheit ein inszenierter Konflikt ist, um den Einfluss des Gerichts zurückzudrängen. Und zwar auf einem Terrain, auf dem die Parteien empfindlich sind, weil es um Posten und Mandate geht. Darin liegt eine hübsche Pointe. Mit ihrem heiligen Eifer - sogar über eine Fünf-Prozent-Klausel im Grundgesetz wurde nachgedacht - bestätigen die Berliner Kritiker ungewollt, dass der Kerngedanke des Karlsruher Urteils richtig ist: Beim Wahlrecht muss das Gericht besonders intensiv kontrollieren - weil der Gesetzgeber in eigener Sache entscheidet.

Urteile müssen auch für Nichtjuristen überzeugend wirken

Trotzdem: Das Gericht hat sich den Ärger auch selbst eingehandelt. Gewiss, das Urteil ist juristisch korrekt, aber wie so oft wäre auch eine andere Lösung vertretbar gewesen, wie die drei Gegenstimmen im Senat belegen. An diesem Punkt kommt ins Spiel, dass solche Entscheidungen immer eine zweite Ebene bedienen müssen: Sie müssen über den Kreis der Juristen hinaus überzeugend wirken. Dieser Anforderung wird das Urteil zur Drei-Prozent-Klausel nicht gerecht. Es wirkt unnötig, kleinlich, überflüssig. Hätte sich das Gericht seiner eigenen Leitlinie von Maß und Mitte verpflichtet gesehen, hätte es gesagt: Fünf Prozent geht nicht, drei Prozent geht.

Denn gesellschaftliche Akzeptanz ist für das Gericht existenznotwendig. Zwar lässt sich noch keine Erosion des überbordenden Vertrauens feststellen, das es in der Bevölkerung genießt. Doch das Gericht muss aufpassen, dass sein Zustimmungskonto nicht schmilzt. Die Zeiten sind schwierig - und das hat vor allem mit Europa zu tun. Und das große deutsche Gericht mit der Lizenz zum letzten Wort wirkt in der neuen europäischen Gerichtsvielfalt mitunter getrieben und unsouverän.

Die Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg tun das, was das Verfassungsgericht in den Fünfzigerjahren getan hat: Sie stecken ihren Einflussbereich ab und zeigen Tendenzen zur Ausweitung. Das deutsche Gericht sieht sich dadurch in die Defensive gedrängt. Gewiss, es verteidigt sich mit großem Selbstbewusstsein - aber in der Abwehrarbeit verliert man leicht jene machtbewusste Gelassenheit, die den Nimbus des Gerichts begründet hat.

Der Datenschutz dürfte nach Europa abwandern

Als der Europäische Gerichtshof im Februar 2013 im Åkerberg-Urteil erkennen ließ, dass er den europäischen Grundrechtsschutz zulasten des nationalen ausweiten wolle, wiesen ihn die deutschen Richter im Urteil zur Antiterrordatei barsch in die Schranken. In der Sache mag die scharfe Replik gerechtfertigt gewesen sein. Aber ein Gericht, das wegschwimmende Felle festhält, wirkt einfach uncool.

Der wirksamste Schutz gegen Kritik aus der Hauptstadt waren seit jeher Urteile, die von der Mehrheit der Menschen als gerecht empfunden werden. Wer den Schwachen in der Gesellschaft beisteht, muss die Politik nicht fürchten - er hat das Volk auf seiner Seite. Als das Gericht in der Dekade nach den Anschlägen des 11. September 2001 den Datenschutz gegen die angeblichen Sicherheitsbelange verteidigt hat, konnte es die Kritik gut aushalten; seine Urteile waren weithin akzeptiert.

Solche Urteile gibt es nach wie vor, etwa zu Hartz IV im Jahr 2010. Doch weil sich inzwischen drei Gerichtshöfe darum drängeln, den Grundrechtsschutz der Bürger zu stärken, fällt weniger Glanz auf Karlsruhe. Als die Verfassungsrichter 2010 das Sorgerecht lediger Väter stärkten, setzten sie nur das um, was kurz zuvor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hatte.

Und der Stern des Gerichts könnte weiter sinken. Der Datenschutz zum Beispiel - eine Karlsruher Erfolgsgeschichte - dürfte nach Europa abwandern. Ohnehin ist er längst eine globale Aufgabe. Verunsichert durch weltweite Überwachung, wird sich mancher ein Machtwort aus Karlsruhe wünschen. Aber für die NSA ist das Gericht nicht zuständig.

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