Urteil zu Sorgerecht:Eine juristische Kinderhymne aus Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht entwickelt das Sorgerecht in fulminanter Weise: Noch vor dreißig Jahren war ein nichteheliches Kind in Deutschland rechtlich mit seinem Vater nicht einmal verwandt. Nun sagen die Richter: Jedes Kind hat ein Recht auf Mama und Papa, auch das nichteheliche Kind.

Heribert Prantl

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zum Sorgerecht lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Jedes Kind hat ein Recht auf Mama und Papa, auch das nichteheliche Kind. Unverheiratete Väter, die nach deutschem Recht bisher nur Zahlväter waren, müssen daher mehr Rechte erhalten. Bisher war es so, dass der Vater von jeglicher Sorge für das Kind ausgeschlossen war, wenn die Mutter nicht einverstanden war. Künftig aber kann der Vater gerichtlich klären lassen, ob es nicht aus Gründen des Kindeswohls geboten ist, ihm zusammen mit der Mutter oder gar ihm allein das Sorgerecht zu übertragen.

Damit gelangt eine fulminante Rechtsentwicklung zu einem vorläufigen Abschluss: Noch vor dreißig Jahren war es so, dass ein nichteheliches Kind in Deutschland rechtlich mit seinem Vater nicht einmal verwandt war. Das Recht hat sich, angeschoben vom Bundesverfassungsgericht, den geänderten Familienwelten angepasst. Das höchste Gericht hat mit seinen Entscheidungen die Strophen zu einer juristischen Kinderhymne geschrieben.

In der "Kinderhymne", die Bert Brecht 1950 als Gegenstück zur bundesdeutschen Nationalhymne gedichtet hat, kommen die Kinder gar nicht vor. Aber sie hat einen so schönen Text, dass sich viele Bürgerinitiativen im Jahr 1990 (vergeblich) dafür eingesetzt haben, sie zur Hymne des wiedervereinigten Deutschland zu machen: "Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand. Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land."

Das Bundesverfassungsgericht hat das 2008 mit einem wegweisenden Urteil beherzigt: Es hat mit Mühe, mit Leidenschaft und mit Verstand nicht gespart - und aus einem Urteil zum Artikel 6 Grundgesetz, also zum Elterngrundrecht, eine juristische Hymne auf die Kinder gemacht. Das Urteil ist sozusagen das erste Kinderlied der Welt mit Aktenzeichen, und seitdem schreibt Karlsruhe von Zeit zu Zeit eine neue Strophe hinzu.

Der Streit der politischen Parteien darüber, ob Kinder ein eigenes Grundrecht brauchen, ist entschieden: Sie brauchen es nicht nur, sie haben es schon. Kinder haben ein Grundrecht "auf Pflege und Erziehung". So sagt es das Bundesverfassungsgericht. Der Wortlaut dieses Elterngrundrechts nach Artikel 6 Grundgesetz ist zwar noch immer der gleiche wie vorher. Kinder als Träger von Rechten kommen dort überhaupt nicht vor, sie sind im Verfassungstext nach wie vor nur Gegenstand elterlicher Verantwortung. Das höchste deutsche Gericht hat aber dem Elterngrundrecht ein ungeschriebenes Kindergrundrecht an die Seite gestellt.

Das ist beim Sorgerecht für nichteheliche Kinder zu bedenken und zu beachten. Kinder, eheliche und nichteheliche Kinder, haben Rechte - auch gegenüber ihren Eltern, auch dann, wenn sie nicht verheiratet sind. Kinder haben ein Recht auf Mama und Papa. Auch das folgt aus dem Kindergrundrecht: Das höchste Gericht gibt den Interessen und Bedürfnissen der Kinder, also dem Kindeswohl, sogar Vorrang vor den Interessen der Eltern - und daraus muss nun, beim Sorgerecht für nichteheliche Kinder, endlich die Konsequenz gezogen werden. Noch einmal: Kinder haben ein Recht auf Mama und Papa, und zwar nicht nur die ehelichen Kinder, sondern auch die nichtehelichen. Der Gesetzgeber muss den Eltern klarmachen, dass ihr Kind ein Recht darauf hat, dass sie gegebenenfalls ihre Streitigkeiten zurückstellen und dass sie sich gemeinsam um das Kind kümmern.

Bisher ist es in Deutschland so, dass der nichteheliche Vater nur dann das Sorgerecht ausüben darf, wenn die Mutter einverstanden ist - und auch dann nur zusammen mit der Mutter. Das muss nun geändert werden, auch auf Druck des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Nun ist es zwar nicht gerade die Regel, dass die Zahlväter sich danach drängen, sich intensiv um die Kinder zu kümmern: Viele nichteheliche Väter, es ist wohl insgesamt noch die Mehrheit (bei den jüngeren Jahrgängen hat es sich sehr gebessert), macht schon bei der Zahlung des Unterhalts Sperenzchen. Es gibt aber eine liebende Minderheit von nichtehelichen Vätern, die nicht nur pünktlich zahlen, sondern sich auch um ihr Kind kümmern wollen - derzeit aber absolut kein Recht dazu haben, wenn die Mutter nicht will.

Hier kommt nun das geplante neue, vom Bundesverfassungsgericht geforderte und von der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger angekündigte Recht: An die Stelle des bisherigen Müttermonopols soll nun richtigerweise die gemeinsame Sorge von Mutter und Vater als gesetzlicher Regelfall treten. Über die Details wird man noch intensiv nachdenken müssen; das Urteil aus Karlsruhe gibt hier gute Hinweise. Kinder sind jedenfalls kein Faustpfand in der Hand von Mutter und Vater - das wird die Maxime für das neue Sorgerecht sein müssen.

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