Urteil zur Sicherungsverwahrung:Deutschland muss Straftäter entlassen

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Schon zum zweiten Mal und in aller Deutlichkeit urteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Deutschland verstößt mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen geltendes Recht. Nach dem Willen Straßburgs müssen demnach mehr als 100 Straftäter bald freigelassen werden.

Deutschland verstößt gegen Menschenrechte. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verletze die Europäische Menschenrechtskonvention, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) - schon zum zweiten Mal binnen 13 Monaten. Zwar reformierte die Bundesregierung nach dem ersten Urteil aus Straßburg im Dezember 2009 die Sicherungsverwahrung; demnach muss eine Sicherungsverwahrung nun immer bereits bei der Verurteilung angeordnet werden und kann nicht wie bislang nachträglich angeordnet oder verlängert werden, wenn sich eine besondere Gefährlichkeit erst in der Haft herausstellt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die deutsche Praxis der rückwirkend verlängerten beziehungsweise nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung für rechtswidrig. (Foto: AP)

Sogenannte Altfälle, die sich derzeit in Sicherungsverwahrung befinden, können allerdings auch jetzt noch selbst dann in Verwahrung bleiben, wenn diese Maßnahme nachträglich verlängert wurde, sofern sie weiter als gefährlich eingestuft werden. Für sie gilt das neue Therapieunterbringungsgesetz, das einen Aufenthalt in speziellen Einrichtungen vorsieht.

Bis 1998 war die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre befristet. Der Gesetzgeber hob die Frist dann aber auf. Jedoch wurde die Sicherungsverwahrung für einige noch vor 1998 verurteilte Täter rückwirkend verlängert. Diese Praxis erklärte schon das EGMR-Urteil von 2009 für unzulässig. Einige Täter kamen deshalb in den vergangenen Monaten frei. Mit dem neuen Therapieunterbringungsgesetz versucht die schwarz-gelbe Bundesregierung, einen Teil dieser Täter wieder unterzubringen - vorausgesetzt, sie sind "psychisch gestört". Die Frage ist, ob das so geht.

Das heutige Urteil aus Straßburg nährt Zweifel. Wahrscheinlicher scheint, dass weitere Straftäter aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen. Insgesamt soll es in Deutschland rund 100 Straftäter geben, gegen die nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet oder für die die Verwahrung nachträglich verlängert wurde. Deutsche Gerichte müssen nun entscheiden, ob sie diese Straftäter freilassen.

Verpasste Freiheit

Geklagt hatte der inzwischen 76-jährige Sexualstraftäter Albert H. aus Bayern. Er wurde 1999 wegen Vergewaltigung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Drei Tage vor seiner Entlassung wurde er 2002 in Sicherungsverwahrung genommen, was durch ein neues bayerisches Gesetz möglich war. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete 2004 zwar die Zuständigkeit Bayerns als Landesgesetzgeber, nicht jedoch die nachträgliche Verhängung der Sicherungsverwahrung.

Der Bund verabschiedete daraufhin das Gesetz, wodurch Albert H. schließlich 2005 erneut in Sicherungsverwahrung kam. Seit 2007 befindet er sich mangels Schuldfähigkeit allerdings in einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in Bayern. Sein Anwalt legte gegen die zeitweilig vollstreckte Sicherungsverwahrung Beschwerde in Straßburg ein. Die hatte nun Erfolg. Zur Begründung heißt es, Albert H. sei 1999 allein wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Damals sei keine Unterbringung zu Präventionszwecken angeordnet worden. Zudem sei die Prognose weiterer Straftaten im Falle seiner Freilassung "nicht konkret und spezifisch genug" gewesen. Zwar könnten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention psychisch Kranke in Krankenhäusern untergebracht werden. Die Gerichte hätten zunächst aber keine psychische Krankheit bei Albert H. festgestellt und ihn in einem gewöhnlichen Gefängnis untergebracht. Damit sei sein Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Artikel 5 der Konvention verletzt worden.

In drei Parallelfällen wiederholte Straßburg einstimmig die Entscheidung von 2009. Geklagt hatten drei Gewalttäter zwischen 50 und 55 Jahren, die alle auch wegen Sexualdelikten verurteilt wurden. Alle drei kamen nach Verbüßen ihrer Haft in Sicherungsverwahrung, die damals auf zehn Jahre begrenzt war. Als 1998 die Höchstdauer gestrichen wurde, blieben sie auf unbestimmte Zeit weggesperrt. Sachverständige hatten die Männer als weiterhin gefährlich beurteilt. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wies ihre Beschwerden ab, der EGMR gab ihnen recht. Ihnen wurden Entschädigungsleistungen zugesprochen. Insgesamt muss ihnen die Bundesrepublik 125.000 Euro zahlen.

© sueddeutsche.de/dapd/AFP/dpa//leja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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