Süddeutsche Zeitung

Urteil:Karlsruhe erlaubt Sterbehilfe

Das Bundesverfassungsgericht kippt das Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließe die Freiheit ein, Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen.

Von Michaela Schwinn

Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe gekippt. Die Richter in Karlsruhe erklärten den Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch für verfassungswidrig und somit nichtig. Das Gesetz, das 2015 vor allem geschaffen wurde, um die Arbeit von Sterbehilfevereinen in Deutschland zu unterbinden, stellt auf Wiederholung angelegte Beihilfe zum Suizid unter Strafe. Geklagt hatten neben Vereinen wie Sterbehilfe Deutschland auch Mediziner und Schwerkranke, die sich durch das Gesetz eingeschränkt fühlten.

"Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen", sagte Andreas Voßkuhle, der Präsident des Gerichts. Er begründete das Urteil mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dies schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dazu Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen, sagte er. Diese Freiheit würde durch das Gesetz eingeschränkt - dem Einzelnen sei es weitgehend unmöglich, Hilfe beim Suizid zu erhalten. Denn das Gesetz verbot nicht nur Sterbehilfevereine, es erschwerte auch die Arbeit von Palliativmedizinern, die Patienten beim Suizid helfen wollten. Voßkuhle betonte zudem, das Recht des selbstbestimmten Sterbens gelte nicht nur für unheilbar kranke Menschen, sondern "in jeder Phase menschlicher Existenz".

Mit dieser Entscheidung bekannte sich der Zweite Senat unerwartet deutlich zur Autonomie des Menschen in Fragen von Leben und Tod. Zugleich gewährten die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber einen gewissen Spielraum, um die Sterbehilfe zu regulieren. So könnte der Staat zum Beispiel eine Beratungspflicht für Sterbewillige einführen. Außerdem dürfe er Suizidhilfe kontrollieren und verbieten, wenn dadurch auf Menschen unzulässiger Druck ausgeübt werde. Etwa, wenn sich Alte oder Kranke verpflichtet fühlen, sich selbst zu töten, um niemandem zur Last zu fallen.

Bevor das Gesetz 2015 beschlossen wurde, hatten Politiker, Mediziner und Geistliche heftig über Sterbehilfe debattiert. Entsprechend scharf fielen die Reaktionen auf die Entscheidung aus. "Das Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar", teilten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm in einer gemeinsamen Erklärung mit. Auch vonseiten der Ärzteschaft kam Kritik: Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hospiz- und Palliativmedizin, Lukas Radbruch, warnte vor "freier Fahrt für Sterbehilfeorganisationen". Zuspruch für das Urteil kam vor allem aus den Reihen von Grünen und FDP. Die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr kündigte einen fraktionsübergreifenden Antrag für ein "liberales Sterbehilfegesetz" an. Der Vorsitzende des Vereins Sterbehilfe Deutschland, Roger Kusch, sprach davon, sein Angebot auszuweiten.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte an, mit allen Beteiligten zu sprechen, um eine verfassungsmäßige Lösung zu finden. Aus einem Recht auf selbstbestimmtes Sterben dürfe keine Gewöhnung werden, warnte er. "Wir müssen immer die Betroffenen und ihre Angehörigen im Blick haben."

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SZ vom 27.02.2020
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