Süddeutsche Zeitung

Russland:"Leute, regt euch nicht auf, es ist alles okay"

Der russische Oppositionelle und Putin-Kritiker Ilja Jaschin wird von einem Moskauer Gericht zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er angeblich falsche Informationen über die Streitkräfte des Landes verbreitet habe. Seine Reaktion: Er lacht.

Von Silke Bigalke, Moskau

Ilja Jaschin muss für achteinhalb Jahre ins Gefängnis und lacht über das Urteil. Die Richterin hat es gerade erst vorgelesen, Kamerateams und Unterstützer drängen sich in dem fensterlosen Gerichtsraum um den engen Glaskäfig, in dem der Angeklagte steht. "Leute", ruft Ilja Jaschin, der in seinem weißen Strickpulli fast weihnachtlich aussieht, "regt euch nicht auf, alles ist okay". Wenn jemand glaube, dass Wladimir Putin noch acht Jahre regieren werde, dann sei er schon ein großer Optimist. Seine Worte gehen fast unter, als die ersten Zuschauer im Saal zu klatschen beginnen. Das Video von dieser Szene verbreitet sich über Telegram im Internet.

Ilja Jaschin ist Vollprofi, er weiß: Solange Putin an der Macht ist, bleibt er ein politischer Gefangener. Der 39-Jährige hat sich natürlich nicht ausgesucht, ins Straflager zu gehen. Aber er hat es akzeptiert als unabwendbare Folge seiner Entscheidung, in Moskau zu bleiben und den Krieg trotzdem zu kritisieren. "Ich wusste, dass Putins Gesetze zur "Militärzensur" meine Verhaftung praktisch unvermeidlich gemacht haben", antwortet er im August in einem schriftlichen Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Da saß er bereits hinter Gittern.

Jaschin wird verurteilt, weil er "wissentlich falsche Informationen" über die russischen Streitkräfte verbreitet haben soll. Konkret war es ein BBC-Bericht über ermordete Zivilisten in der ukrainischen Stadt Butscha, der zur Anklage führte. Jaschin hatte im April Ausschnitte aus dem Bericht in seiner eigenen Youtube-Sendung gezeigt, in der er regelmäßig über politische Themen sprach. Dass Jaschin in derselben Sendung auch die Version des russischen Verteidigungsministeriums zitiert hatte, nützte nichts. Staatsanwalt Sergej Below warf ihm vor, "aus politischem Hass" gehandelt zu haben, als er ausländische Medien aus "feindlichen" Ländern zitierte und deren "negatives Bild" von der russischen Armee verbreitete.

Der Angeklagte helfe dem Feind, rügt der Staatsanwalt

Während der Verhandlung erinnerte Below an die offizielle Kreml-Darstellung der Geschehnisse in Butscha, die ungefähr so lautet: Was immer dort geschehen ist, die russischen Streitkräfte sind unschuldig, denn sie waren längst abgezogen. Vermutlich hätten die Ukrainer alles inszeniert, so lautete die russische Propaganda, um Moskau in ein schlechtes Licht zu rücken. Bricht man es herunter, steht Ilja Jaschin vor Gericht, weil er diese Darstellung öffentlich in Frage gestellt hat.

Es nützte auch nichts, dass seine Verteidiger vor Gericht Berichte von UNO und OSZE über Butscha zitierten, die den russischen Ausführungen widersprechen. Die Vereinten Nationen, bügelte der Staatsanwalt das Argument ab, stünden praktisch auf der gegnerischen Seite, ihre Berichte seien voreingenommen. Schließlich warf er Jaschin vor, "feindliche Propaganda" zu verbreiten - während russische Soldaten an der Front kämpften, helfe der Angeklagte dem Feind.

Ilja Jaschin begann seine Schlussworte am Montag mit der Bemerkung, dass der Ausdruck "letzte Worte des Anklagten" doch recht düster klinge. "Als ob mir nach einer Rede mein Mund zugenäht würde", sagte er. Tatsächlich sei dies wohl der Sinn der Sache: Ihn ins Gefängnis zu stecken, von der Gesellschaft zu isolieren, zum Schweigen zu bringen. Neun Jahre Strafkolonie hatte der Staatsanwalt gefordert, Richterin Oxana Gorjunowa blieb nur wenig darunter. Sie folgte auch dem Wunsch des Anklägers, Jaschin nach seiner Freilassung für vier weitere Jahre die Nutzung des Internets zu verbieten. Für Oppositionspolitiker wie Jaschin, die in den staatlich kontrollierten Medien Russlands höchstens als angeblich feindliche Agenten auftauchen, ist das Internet die wichtigste Plattform.

Härter bestraft als ein Mordverdächtiger

Auf Telegram etwa beschreibt er seine Erfahrungen im Moskauer Untersuchungsgefängnis Butyrka, sein Kanal liest sich fast wie ein Tagebuch. Im Gefängnis habe ihm kürzlich ein Mann erzählt, schrieb Jaschin diese Woche, dass er acht Jahre wegen Mordes bekommen solle. "Zwei Stiche ins Herz und einen in die Leber", der Mann sei sehr aufgebracht gewesen, als er das Strafmaß hörte. Für Jaschin fällt dieses nun sogar noch höher aus als für den Mordverdächtigen. "Ich glaube, wenn ich wegen Mordes angeklagt worden wäre, hätte der Staatsanwalt ein geringeres Strafmaß gefordert", so Jaschin.

Er ist nicht er erste, der wegen Kritik an der Armee für viele Jahre weggesperrt werden soll. Alexej Gorinow war oppositioneller Abgeordneter im selben Stadtbezirk wie Jaschin. Mitte März hatte er mit anderen Abgeordneten, darunter auch Jaschin, um einen Konferenztisch gesessen und über ein geplantes Bezirksfest gesprochen. Gorinow fand es unpassend, zu feiern, während in der Ukraine "jeden Tag Kinder sterben". Das reicht aus für sieben Jahre Haft.

Auch der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa wurde zunächst wegen "Falschnachrichten" über die Streitkräfte festgenommen, inzwischen steht er wegen Verrats vor Gericht. Kara-Mursa gehört zu den lautesten Kritikern des Kreml, mehrfach hat er den Krieg öffentlich verurteilt. Nun drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. Gegen Jewgenij Roisman, einst Bürgermeister von Jekaterinburg und einer der prominesten Oppositionellen Russlands, läuft ein Verfahren, weil er die Armee diskreditiert haben soll. Für alle, die offen Kritik am Krieg üben, gibt es längst nur noch die Wahl zwischen Gefängnis und Exil.

Ilja Jaschin forderte Putin in seiner Schlussrede erneut auf "diesen Wahnsinn sofort zu beenden", die Truppen abzuziehen. Seine Unterstützer bat Jaschin, nicht zu verzweifeln und einander zu helfen. "Wir sind viel mehr, als es scheint", sagte er, zusammen seien sie "eine riesengroße Kraft". Tatsächlich hatten viele Dutzend Menschen in klirrender Kälte vor dem Gerichtsgebäude gewartet, um den Oppositionellen zu unterstützen.

Nach dem Richterspruch beantwortete Jaschins Mutter draußen im Schnee Fragen, die Nachrichtenplattform Sota veröffentlichte ein Video davon: Sie glaube, dass ihr Sohn unter Putin nicht mehr freikomme, sagte sie. Der Kremlchef ist am Freitag von Journalisten auf das harte Urteil gegen Jaschin angesprochen worden. "Wer ist das?", entgegnete Putin nur. Er gibt gern vor, die Namen seiner Gegner nicht zu kennen. Verschwinden lassen kann er sie dadurch nicht.

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