Urteil gegen Kassiererin:Justiz und kleine Leute

Ein Gericht hat die Kündigung einer Supermarktkassiererin wegen Pfandbons im Wert von 1,30 Euro bestätigt - ein maßloses Urteil.

Heribert Prantl

Es ist ein altes Vorurteil, dass die Justiz die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt. Es ist auch ein altes Vorurteil, das die kleinen Leute weniger Recht kriegen.

kassererin pfandbon kündigung ddp

Laut einem Gericht zu Recht gefeuert, weil sie angeblich Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unterschlagen hat: Kassiererin Barbara E.

(Foto: Foto: ddp)

Und es ist auch ein altes Vorurteil, dass die Richter bei den großen Leuten umsichtig und maßvoll verhandeln, und bei den kleinen Leuten hastig und verständnislos.

Leider gibt es Urteile, die diese Vorurteile bestätigen. Soeben kann man wieder eines dieser Vorurteils-Bestätigungs-Urteile besichtigen: Eine Berliner Supermarktkassiererin ist nach 31 Jahren fristlos gekündigt worden, weil sie Pfandbons im Wert von 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung bestätigt.

Es ist dies ein Urteil ohne Maß, ein maßloses Urteil. Es liegt aber nicht außerhalb der Rechtsprechung. Immer wieder bestätigen die Gerichte fristlose Kündigungen wegen kleiner und kleinster Fehltritte, nicht selten mit der Folge von Dauerarbeitslosigkeit.

Das Landesarbeitsgericht Berlin, das die Entlassung der Supermarktkassiererin in zweiter Instanz bestätigt hat, kann sich auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984 berufen. Eine Bäckereiverkäuferin hatte ein Stück Bienenstich vom Vortag mitgenommen. Sie musste gehen und dem Bundesarbeitsgericht war das recht.

Und aus Hannover gibt es den Fall, bei dem ein Vater von zwei Kindern, Leiter einer kleinen Bäckereifiliale, im Lager der Filiale einen Becher Müller-Milch im Wert von 59 Cent ausgetrunken hatte; das Verfallsdatum war längst überschritten.

Private Briefe in der Firmenpost

Der Arbeitgeber begnügte sich nicht mit einer Abmahnung und auch nicht mit einer fristgerechten Kündigung, sondern sprach die fristlose Entlassung aus. Diese wurde vom Arbeitsgericht Hannover im Jahr 2006 bestätigt. Das Vertrauen des Arbeitgebers sei, unabhängig vom Wert der Milch, irreparabel zerstört.

Ähnlich der Portokosten-Fall in Frankfurt: Ein Kundenbetreuer bei einem großen Versicherungsunternehmen hatte neun Privatbriefe zur Poststelle der Firma gegeben. Wegen der unüblichen handschriftlichen Adressierung war das aufgefallen und gemeldet worden.

Gleichwohl meinte das Arbeitsgericht, der Mann habe sich die 4,95 Euro Portokosten diebstahlsähnlich zu erschleichen versucht und damit nicht nur das Vertrauen der Geschäftsleitung zerstört, sondern die betriebliche Organisation massiv gestört.

Justiz und kleine Leute

Helmut Kramer, ein früherer Richter am Oberlandesgericht, hat solche Fälle zusammengetragen in einem Beitrag für das soeben erschienene "Schwarzbuch Deutschland", Untertitel: "Das Handbuch der vermissten Informationen".

Dort finden sich auch die Urteile, die belegen, wie man die Großen laufen lässt. Die Großen sind beileibe nicht nur die Ackermänner aus der Wirtschaft.

In der brandenburgischen Trennungsgeldaffäre etwa, bei der Richter und Beamte aus dem Westen (unter anderem fünf einstige Minister und Staatssekretäre) insgesamt mindestens zwei Millionen Euro Trennungsgeld zu Unrecht bezogen hatten, begnügte man sich zumeist mit der Rückzahlung der eingeheimsten Gelder.

Es gab 269 Verdachtsfälle allein im Bereich der Justiz, also bei Richtern und Staatsanwälten - aber nur eine einzige Verurteilung.

Und das Vertrauen des Arbeitgebers in die Integrität der Richter, Staatsanwälte und Beamten, das bei Supermarktkassiererinnen, Bäckerei-Filialleitern und Versicherungs-Kundenbetreuern so wichtig ist, war hier offenbar nicht nachhaltig beschädigt.

Massenfälle hier, Sonderfälle dort

Der frühere Oberlandesrichter Kramer analysiert auch eine ganze Reihe von Ladendiebstahls- und Schwarzfahrer-Fällen und kommt zu dem Schluss: "Was einfachen Bürgern vorenthalten wird, nämlich Verständnis für situativ bedingte Ausnahmesituationen, wird gutbetuchten Beschuldigten nicht selten großzügig zuteil."

Der frühere Postchef Klaus Zumwinkel erhielt für Steuerhinterziehung in Höhe von fast einer Million Euro eine Bewährungsstrafe. Das Strafmaß war hier, wenn man es mit anderen Steuerstraftaten vergleicht, nicht zu beanstanden; die Justiz konnte Zumwinkel nicht schärfer anfassen als andere Steuerstraftäter.

Die Strafzumessungspraxis bei Wirtschaftsstraftaten erscheint einem freilich einigermaßen makaber, wenn man sie damit vergleicht, wie die Justiz bisweilen auf Bagatellstraftaten kleiner Leute reagiert.

Die Strafmaßunterschiede bei U-Bahn-Schwarzfahrern einerseits und bei Steuerhinterziehung oder Korruption andererseits sind krass: Massenfälle hier, Sonderfälle dort. Strafrecht gilt deshalb in besseren Kreisen immer noch als Spezialrechtsgebiet gegen das Prekariat und den unteren Mittelstand.

Das Recht ist auch für die Schwachen da. Das ist ein selbstverständlicher Satz. Aber das Selbstverständliche ist leider nicht selbstverständlich.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: