Verteidigung:Warum Ursula von der Leyen die Schulden-Schleusen öffnet

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„Wir befinden uns jetzt in einer weiteren Krisenzeit“: Die EU-Kommission will die Schuldenregeln lockern, um die Verteidigungsfähigkeit Europas zu steigern. Flaggen der Europäischen Union vor der EU-Zentrale in Brüssel.   (Foto: Yves Herman)

Die EU-Staaten ringen um höhere Militärausgaben, die Präsidentin der Europäischen Kommission will ihnen zusätzlichen Raum dafür geben. Für Deutschland führt das zu einer unbequemen Erkenntnis.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, ist es schwierig, noch weiter zurückzugehen. Als Donald Trump ohne die Europäer Verhandlungen mit Russland ankündigte und nebenbei die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa begrub, empfahl Ursula von der Leyen dennoch genau das. „Lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten“, sagte die Präsidentin der Europäischen Kommission, als sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz über die Frage sprach, wie die EU künftig mehr Geld für ihre Verteidigungsfähigkeit aufbringen kann. „Schauen Sie, was wir in früheren außergewöhnlichen Krisen getan haben.“

Eine dieser früheren Krisen ist gerade erst überwunden, der ursprüngliche Corona-Schock ist nur fünf Jahre her. Von der Leyen verwies auf den „zusätzlichen Spielraum“, den man den Mitgliedstaaten damals gegeben habe. Im April öffnete die Kommission die Schulden-Schleusen, womit auch klamme EU-Länder im Angesicht der Krise ihre Staatsausgaben massiv ausweiten durften. „Ich glaube, wir befinden uns jetzt in einer weiteren Krisenzeit, die einen ähnlichen Ansatz rechtfertigt“, sagte sie. Ihr Versprechen: Die Kommission wird wegschauen, wenn die EU-Länder mehr geliehenes Geld für das Militär ausgeben. So hofft sie, zumindest einen Teil jener 500 Milliarden Euro an zusätzlichen Verteidigungsausgaben aufzubringen, mit denen die Exekutivbehörde der EU für die kommenden zehn Jahre rechnet.

Die Ankündigung hallt nach: in Paris, wo sich die Staats- und Regierungschefs von sieben EU-Staaten und der britische Premier Keir Starmer am Montagnachmittag zum Sondergipfel trafen. In Berlin, wo noch Olaf Scholz (SPD) im Bundeskanzleramt waltet und darauf besteht, zeitlich eng begrenzt nur jenen Ländern eine Ausnahme zu gönnen, die schon das Nato-Ziel erfüllen, also mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben. Und nicht zuletzt in Brüssel, wo die EU-Finanzminister zu ihrer turnusgemäßen Sitzung am Montag beim Abendessen über den Vorschlag von der Leyens beraten wollten.

Schon zuvor drängte sich eine Schlussfolgerung auf: Die erst im April 2024 reformierten europäischen Schuldenregeln, mühsam neu errichtete Leitplanken für die Staatsfinanzen in der EU, hat der Trump-Sturm gleich mit weggefegt. Von den vielen Opfern, die Europa absehbar wird erbringen müssen, gehört dieses zu den weniger schmerzvollen. Die sparsamen Länder, traditionell angeführt von Deutschland, sind nur noch wenige. Eine neue, mutmaßlich konservativ geführte Bundesregierung wird hinnehmen müssen, dass Europa seine Aufrüstung nicht wegen Sparvorgaben aus Brüssel aufschieben kann.

Die Kommission will eine sogenannte Ausweichklausel aktivieren

Das auch als Stabilitäts- und Wachstumspakt bekannte Regelwerk beschränkt die Gesamtverschuldung eines EU-Lands auf 60 Prozent und die Aufnahme neuer Schulden auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Wer darüberliegt, muss mit der Kommission einen Pfad aushandeln, um die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen. Seit der Reform ist dieser Prozess stärker individuell auf das jeweilige Land zugeschnitten, die Spielräume sind größer und die Zeiträume länger, das Grundprinzip aber blieb.

Von der Leyen kündigte jetzt an, „die Ausweichklausel für Verteidigungsinvestitionen“ zu aktivieren. Nun kennt das Gesetz zwei Ausweichklauseln. Die Schuldenregeln allgemein auszusetzen, das geht nur, wenn „ein schwerwiegender wirtschaftlicher Abschwung in der Euro-Zone oder der Union als Ganzes“ vorliegt. Einen solchen gibt es nicht. Bleibt also die zweite, die „nationale Ausweichklausel“. Eigentlich gedacht, um einzelnen Ländern in einer Krisenlage zu helfen, setzt diese „außergewöhnliche Umstände außerhalb der Kontrolle des Mitgliedstaats“ voraus, die „erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen“ haben. Solche Umstände kann man mit Blick auf den Ukraine-Krieg, die Friedenssicherung und die Aufrüstung in Europa als gegeben annehmen.

Der Trick ist nun, allen Mitgliedstaaten gleichzeitig diese zweite Klausel anzubieten. Mehr als die Hälfte der EU-Staaten könnte sie für schuldenfinanzierte Rüstungsausgaben in Anspruch nehmen, erwartet man in der EU-Kommission. Die technischen Details sind kompliziert, zwei Dinge allerdings klar: Erstens ist dieses Manöver riskant, weil die zusätzlichen Schulden nicht zweckgebunden sind – das Geld für Verteidigung auszugeben, wäre so zum Beispiel im Fall von Italien nur eine Empfehlung. Vorschreiben kann man es einer Regierung nicht.

Zweitens ist der fiskalische Spielraum hoch verschuldeter EU-Staaten auch mit der Ausnahmeregel klein. Das gilt gerade für einige der Länder mit den größten Armeen und den höchsten absoluten Militärausgaben: Italiens Schuldenstand etwa liegt nah an 140 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Frankreich, dessen neue Regierung gerade so einen neuen Haushalt durchs Parlament gebracht hat und mit fünfeinhalb Prozent Neuverschuldung plant, liegt er jenseits von 110 Prozent. Griechenland, wo man stolz ist auf die jüngsten Wirtschaftsdaten, steht bei 160 Prozent.

Was wiederum den Schluss zulässt, dass es den fiskalischen Spielraum für höhere Militärausgaben am Ende nur auf zwei Wegen gibt: entweder durch die erneute Einrichtung von Gemeinschaftsschulden oder indem Länder mit ausgeglichenen Haushalten einen überproportional hohen Teil der Last schultern. In beiden Fällen kämen auf Deutschland die mit Abstand höchsten Kosten zu.

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