Ureinwohner in Australien:"Vergessen kann ich nicht"

Die australische Regierung entschuldigt sich endlich dafür, dass Zehntausende Kinder von Aborigines und Torres-Strait-Insulanern ihren Eltern weggenommen wurden. Eine von ihnen erzählt ihre Leidensgeschichte.

Urs Wälterlin

Es ist eine fast obszön schöne Kulisse für eine so tragische Geschichte. Im Hintergrund strahlt das weiße Segeldach des Opernhauses von Sydney im Glanz der Nachmittagssonne, als Mary Hooker von der dunkelsten Zeit ihres Lebens erzählt, und von einem der düstersten Kapitel der australischen Geschichte.

Ureinwohner in Australien: Premierminister Kevin Rudd posiert am 12. Februar 2008 mit Aborigines vor dem Parlamentsgebäude in Canberra.

Premierminister Kevin Rudd posiert am 12. Februar 2008 mit Aborigines vor dem Parlamentsgebäude in Canberra.

(Foto: Foto: AFP)

Es war im Frühjahr 1970, und Mary war zwölf Jahre alt. "Unsere Familie lebte in einer Aborigine-Siedlung, als eines Morgens ein Polizeiauto vor der Schule hielt", erzählt die heute 50-Jährige. "Sieben meiner Geschwister saßen bereits im Wagen."

Die Beamten seien freundlich gewesen. "Sie sagten, wir würden unsere Mutter besuchen gehen, die im Krankenhaus war." Stattdessen wurden die Kinder zum Gericht gefahren, wo man den Eltern in Abwesenheit das Sorgerecht entzog, offiziell wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht.

"Ich saß nur da und verstand überhaupt nichts", erzählt Mary Hooker. Jetzt dürft ihr zwei Wochen in die Ferien, habe eine Frau gesagt. "Wir fuhren mit dem Zug nach Sydney, wo ein Wagen wartete und uns in verschiedene Kinderheime brachte."

Aus zwei Wochen Urlaub wurden sechs Jahre Albtraum für Mary Hooker, eine von Zehntausenden Betroffenen der sogenannten "Gestohlenen Generationen" Australiens. Die Ureinwohner sind Opfer einer Politik verschiedener Regierungen, die von 1900 bis etwa 1973 zur Zersplitterung unzähliger Familien geführt hat und unter der noch heute Zehntausende indigene Australier leiden - als direkt Betroffene, aber auch Nachkommen von Opfern.

Depressionen, Identitätsprobleme, soziale Verwahrlosung und Selbstmorde sind unter den Betroffenen der "Gestohlenen Generationen" endemisch - Folgen einer systematischen Entwurzelung durch den Staat.

Laut der 1997 von der australischen Menschenrechtskommission verfassten Studie "Bringt sie nach Hause" wurden in mehr als 70 Jahren mindestens 100.000 Aboriginal-Kinder von ihren Eltern entfernt; in einigen Fällen durchaus mit deren Zustimmung, weil sie sich nicht in der Lage sahen, für die Kinder zu sorgen. Meist aber geschah die Entfernung unter Zwang und nicht selten unter Anwendung von Gewalt. Oft waren auch die Kirchen involviert - als Betreiber von Schulen und Heimen, in denen die Kinder der Ureinwohner untergebracht wurden.

Ideologische Grundlage dieser Politik war die Ansicht, die durch Verfolgung und Mord bereits dezimierten Ureinwohner Australiens hätten 100 Jahre nach der Invasion des Kontinents durch britische Strafgefangene und Siedler als "Rasse" keine Überlebenschance. Vollblut-Aborigines galten als "Steinzeitmenschen" und zum Aussterben verurteilt. So konzentrierte sich die Regierung auf die vermeintliche "Rettung" von Mischlingskindern. Sie wollte mit deren Entfernung von den Eltern und der anschließenden forcierten Integration in die weiße Gesellschaft die "Aboriginalität" von Generation zu Generation reduzieren und schließlich ganz ausradieren - "auszüchten", so die damalige Terminologie.

"In 100 Jahren wird der reinrassige Schwarze ausgestorben sein", zitiert 1937 eine Zeitung den damaligen Chef der Aborigine-Aufsichtbehörde im Bundesland Westaustralien, A.O. Neville, "aber das Problem der Halbblüter nimmt mit jedem Jahr zu". Deshalb sei es notwendig, die "Vollblut-Aborigines" zu separieren und "die Mischlinge in die weiße Bevölkerung zu absorbieren". Neville war wie viele seiner Zeitgenossen der festen Überzeugung, die Praxis diene dem Wohl der Kinder.

"Dann vergewaltigte er mich"

Noch heute sind viele konservative Politiker und Kommentatoren der Ansicht, Wohltätigkeit sei damals der wichtigste Beweggrund gewesen, nicht Rassismus. Für Mary Hooker ist das blanker Hohn. "Die wussten ganz genau, was in diesen Heimen vor sich ging", sagt sie. "Zu Hause bin ich jedenfalls nie missbraucht worden." Getrennt vom Rest der Familie, wurden das Mädchen und seine ein Jahr jüngere Schwester nach ein paar Monaten von Sydney in eine Kleinstadt gebracht.

In einem Kinderheim, in dem sie die einzigen farbigen unter 20 Mädchen waren, begann, was Tausende ihrer Leidensgenossinnen erfahren mussten: "Am Abend kam der Hausvater zum 'Gute-Nacht'-Sagen. Erst brachte er mich ins Bett, dann vergewaltigte er mich. Wenn ich mich wehrte, gab's Prügel." Auch Mary Hookers Schwester wurde missbraucht. Wer sich nicht fügte, wurde brutal bestraft. Besonders grausam war es nach Fluchtversuchen. "Der Hausvater sperrte mich tagelang in Isolationshaft, wo er jederzeit Zugang zu mir hatte", berichtet Mary Hooker.

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"Vergessen kann ich nicht"

Essensentzug und Fernsehverbot waren weitere Methoden, mit denen der Wille der Kinder gebrochen werden sollte. Soziale Isolation war für Mary Hooker die schlimmste Strafe. "Wenn ich etwas aß, musste ich mit dem Rücken zu den weißen Mädchen sitzen." Für Mary Hooker ist das Erzählen ihrer Geschichte mit den Jahren nicht einfacher geworden.

Ihre Stimme stockt, als sie sich an das nächste Heim erinnert, eines für "schwierige" Kinder. "Die fünf Heimleiter lösten sich ab. Jeder von ihnen vergewaltigte uns; je nachdem, wer gerade Schicht hatte." Manche Mädchen wurden schwanger. "Doch die Babys wurden sofort nach der Geburt entfernt und zur Adoption freigegeben. Sie hatten nicht einmal einen Namen."

Billige Dienstboten

Mary Hooker ist eine von vielen Zeuginnen, die der Untersuchungskommission vor zehn Jahren ihre Geschichte zu Protokoll gegeben hatten. Die meisten erzählen das Gleiche: Die Integration in die weiße Gesellschaft bedeutete in der Realität ein Leben als billige Dienstbotin in noblen Haushalten. Nach Aufenthalten in verschiedenen anderen Heimen wurde Mary Hooker Dienstmädchen im Haus einer weißen Familie in einem Edelquartier von Sydney. "Ich war erst 14 und musste von morgens sechs Uhr bis abends um halb zwölf arbeiten."

Gleichzeitig diente sie dem Hausherrn als Sexsklavin. Irgendwann rannte Mary Hooker dann davon. Sie ist sichtlich beschämt, als sie erzählt, wie sie danach als Prostituierte im Rotlichtviertel von Sydney arbeitete. Nur der Hilfe eines Straßenpriesters ist es wohl zu verdanken, dass sie überlebte - und der Erkenntnis, "dass ich nur mittels Ausbildung einen Ausweg aus diesem Leben finde". 18-jährig ließ sie sich zur Sekretärin ausbilden. Das brachte die Wende. Mary Hooker heiratete. Sie hat heute zwei Kinder und zwei Enkel.

Im Hintergrund gleitet eine Fähre durch den Hafen von Sydney, voll beladen mit Touristen. Mary Hooker schaut aus dem Fenster und schluchzt leise. Mit Tränen in den Augen sagt sie: "Man hat mir meine Jugend gestohlen, acht Männer haben mich vergewaltigt, ich habe den Kontakt zu den Eltern verloren, man hat mir meine Geschichte als Aborigine geraubt. Als Christin muss ich aber meinen Feinden vergeben. Vergessen jedoch kann ich nicht."

Für die Frau ist die Entschuldigung, die Premierminister Kevin Rudd an diesem Mittwoch in Canberra aussprechen wird, mehr als nur ein Symbol, wie Rudds Kritiker meinen. "Zum ersten Mal in meinem Leben wird meine Geschichte offiziell bestätigt", sagt sie. "Meine Wunden werde ich zwar behalten. Aber das 'Sorry' wird mir dabei helfen, sie zu heilen."

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