Großbritannien:Nicht die feine englische Art

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Lindsay Hoyle ist Sprecher und damit auch Regelhüter des Unterhauses. (Foto: UK Parliament/REUTERS)

Im britischen Unterhaus sitzen so viele neue Abgeordnete wie noch nie. Einige der Neulinge sind mit den teils kuriosen Regeln und Gepflogenheiten überfordert.

Von Michael Neudecker, London

Sir Lindsay Hoyle war natürlich nicht widerspenstig, als er im Juli zum Speaker of the House wiedergewählt wurde, zum Sprecher des britischen Unterhauses, er wollte es ja so. Aber die Tradition verlangte, dass er zumindest so tun musste, als ob. Die meisten Briten sind stolz auf ihre Traditionen, am allermeisten hier, im House of Commons, dem Abgeordnetenhaus, dem wahrscheinlich bekanntesten und ganz bestimmt kuriosesten Politiktheater der Welt.

Der Sprecher leitet die Debatten und sorgt dafür, dass die Regeln des Hauses befolgt werden, vor langer Zeit war der Speaker auch der Überbringer von Abstimmungsergebnissen an den König. Der wiederum drückte gelegentlich sein Missfallen dadurch aus, dass er den Speaker einen Kopf kürzer machen ließ, weshalb der frisch Gewählte bis heute von anderen Abgeordneten scheinbar widerwillig zu seinem Stuhl gezerrt wird. „Dragging of the speaker“ heißt dieses Ritual, das genauso bizarr aussieht, wie es klingt.

Der sehr britische Amtsantritt von Lindsay Hoyle im November 2019. (Foto: Jessica Taylor/UK Parliament/AFP)

Wenn man mit Lindsay Hoyle spricht, zum Beispiel bei einem seiner Empfänge im Speaker’s Court, muss man zwar etwas genauer hinhören, er kommt aus Lancashire; sein Englisch klingt für Nicht-Engländer auf ähnlich sympathische, aber mitunter schwer verständliche Weise silbenverschlingend wie Niederbairisch für Nicht-Niederbayern. Er ist ein sanfter Zeitgenosse, was aber nicht heißt, dass er seinen Job als Regelhüter nicht in aller gebotenen Strenge ausüben würde. Aktuell ist dieser Job besonders mühsam, weil im Juli so viele neue Abgeordnete gewählt wurden wie nie zuvor. Die Neuen sind derart überfordert, dass derzeit Auffrischungskurse zur Regelkunde im Unterhaus angeboten werden, Anwesenheit unbedingt erwünscht.

Bei Debatten darf nur der Speaker adressiert werden

Besonders unangenehm fiel der Abgeordnete Steve Witherden aus Montgomeryshire auf. Der Waliser, seit Juli für Labour im Unterhaus, wurde dabei erwischt, wie er auf den Bänken sitzend Milch trank, was konservative Abgeordnete zum Schäumen brachte. Mehrere Beschwerden der Opposition sollen eingegangen sein, das Konsumieren von Nahrung in der Kammer ist verboten. Und damit nicht genug. Mehrere Abgeordnete fielen dadurch auf, dass sie sich direkt ansprachen, statt den Sprecher zu adressieren. Außerdem vergaßen sie, den Titel „the honourable member“ zu verwenden (oder „the right honourable“). Ein anderer Abgeordneter musste sich schriftlich bei Hoyles Stellvertreterin Caroline Nokes entschuldigen, weil er sie mit „Madam Mayor“ angesprochen hatte, statt mit „Madam Deputy Speaker“.

Der Milch trinkende Abgeordnete Witherden übrigens entschuldigte sein Verhalten damit, er habe Mühe, sich alle Regeln einzuprägen. Dabei ist das Unterhaus-Regelbuch gerade mal 16 Seiten lang. Auf den Seiten elf folgende geht es auch um das korrekte Kleiden. Schals oder T-Shirts seien nicht in Ordnung, auch „casual shoes“ wie Turnschuhe seien „unangemessen“, wie unter Punkt 30 steht. In den Kursen dürften sie vor allem diesen Punkt laut vorgelesen haben. Ein besonders flegelhafter Abgeordneter trug nämlich nicht nur das falsche Schuhwerk, als er das Zentrum der britischen Demokratie betrat, wie nun bekannt wurde. Sondern gar keins.

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