Deutschland im September 1952, Kanzler Adenauer treibt mit voller Kraft die Westintegration der jungen Bundesrepublik voran, eines seiner großen Ziele: die Aufnahme Deutschlands in die Nato. In diese Zeit platzt die unglaubliche Aussage eines ehemaligen SS-Offiziers. Eine Aussage, deren Folgen einen transatlantischen Skandal auslösen werden. Hans Otto erklärt der hessischen Kriminalpolizei, er gehöre "einer politischen Widerstandsgruppe an, deren Aufgabe es war, im Fall eines russischen Vormarsches Sabotageakte durchzuführen und Brücken zu sprengen".
Die politische Widerstandsgruppe ist der von Rechtsextremen dominierte "Bund Deutscher Jugend", kurz BDJ. Otto sagt aus: "Etwa 100 Mitglieder der Organisation wurden politisch geschult, und in der Bedienung von amerikanischen, russischen und deutschen Waffen und in der Anwendung militärischer Taktik unterwiesen. Die Mitglieder dieser Organisation waren hauptsächlich ehemalige Offiziere der Luftwaffe, des Heeres oder der Waffen-SS."
Otto erzählt der Polizei, dass ein amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter für das Geld und den größten Teil der Ausbildung und Ausrüstung sorgte. Die Männer seien in der Nähe von Wald-Michelbach, einer Gemeinde im hessischen Odenwald, unterrichtet worden, hätten ein Haus mit einer unterirdischen Schießanlage und einem Bunker ganz in der Nähe.
Otto selbst zeigte sich mit zunehmender Tätigkeit unwillig über die unterrichteten Methoden: "Er lehrte uns beispielsweise, wie man jemanden tötet, ohne eine Spur zu hinterlassen, wenn man ihn einfach mit Chloroform bewusstlos macht, ihn in sein Auto setzt und einen Schlauch benutzt, um die Abgase des Autos ins Wageninnere zu leiten. Er lehrte uns auch gewisse Vernehmungstechniken, wie man Gewalt anwenden kann, ohne Spuren zu hinterlassen." Es klingt wie die Aussage eines Spinners.
Aus einer Aussage wird ein Skandal
Doch vier Tage später, am 13. September 1952, stürmt die Polizei die Zentrale des BDJ im Odenwald. Sie verhaftet Mitglieder, konfisziert Waffen, Munition und Sprengstoff, ebenso jede Menge Akten. Eines der aufgefundenen Papiere überrascht die Ermittlungsbeamten besonders: "Diese Liste enthielt die Namen der Personen, die eliminiert werden sollten. Die Liste war nicht vollständig, weil daran immer noch gearbeitet wurde." Auf der Liste stehen die Namen vieler bekannter deutscher Kommunisten, die im Fall einer Invasion ermordet werden sollten - aber auch Namen gemäßigter Sozialdemokraten, wie der von Heinrich Zinnkann, damals Innenminister Hessens.
Der Vorfall sorgt in politischen Kreisen für einen Skandal. Eine geheime Organisation als Basis illegaler Tätigkeiten, außerhalb jeder legislativen Kontrolle und unter dem Einfluss amerikanischer Geheimdienste?
Der Journalist Leo Müller berichtet, dass, nachdem die Liste gefunden wurde, "die Überraschung so groß war, dass die meisten mit Unglauben reagierten". Bundeskanzler Konrad Adenauer behauptet, von der ganzen Affäre nichts gewusst zu haben, während Walter Donelly, der amerikanische Hochkommissar in Deutschland, erklärt, dass das Netzwerk ohnehin genau in diesem Monat aufgelöst werden soll. Schon am 30. September urteilt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass alle verhafteten Mitglieder der Gruppe freizulassen sind.
Hessens Ministerpräsident Georg August Zinn reagiert verärgert: "Die einzige juristische Erklärung für diese Haftentlassung kann sein, dass die Leute in Karlsruhe einer amerikanischen Anweisung folgten." Er beschließt, die Öffentlichkeit zu informieren. Am 8. Oktober 1952 tritt er nach einem Gespräch mit Bundeskanzler Adenauer vor das hessische Parlament: "Am 9. September 1952 erfuhr eine Außenstelle des hessischen Verfassungsschutzamtes von einer geheimen Organisation, die 1950/1951 von den Anführern des BDJ unter der Bezeichnung TD, 'Technischer Dienst', gegründet wurde."
Nach einer Erläuterung ihrer Arbeitsweise fügt er hinzu: "Am 1. Oktober ordnete der Oberbundesanwalt die Freilassung der Verdächtigen an, da die Organisation auf Anordnung der amerikanischen Geheimdienste geschaffen wurde."
Ein Aufschrei geht durch den Landtag, die New York Times schreibt von deutsch-amerikanischen Krisensitzungen, der Spiegel berichtet: "Die BDJ-Affäre hat in den verschiedenen Hauptquartieren des amerikanischen Geheimdienstes große Unruhe ausgelöst. Der 'Technische Dienst' in Deutschland ist eine Abteilung eines umfassenden Partisanennetzwerks, das von den Vereinigten Staaten unterstützt wird und sich über ganz Europa verteilt."
Sabotage hinter feindlichen Linien
Zum ersten Mal erfährt die Öffentlichkeit etwas von einem deutschen sogenannten Stay-behind-Netzwerk. "Stay behind" - der englische Begriff für "zurückbleiben" war die Taktik einer britischen Spezialeinheit, die im Zweiten Weltkrieg mit Fallschirmen hinter den feindlichen Linien absprang und Sabotageakte verübte. Nach der Niederlage Deutschlands im Jahr 1945 fürchten sich die USA und Westeuropa vor einer sowjetischen Invasion und bauen ähnliche Gruppen auf. An Antikommunisten und Erfahrung mit Waffen mangelt es kurz nach dem Krieg nicht. Doch nach der Auflösung des BDJ geraten die Netzwerke aus dem Blick der Öffentlichkeit - fast vierzig Jahre lang.
Lesen sie auf der nächsten Seite, wie herauskommt, dass die Stay-behind-Netzwerke auch noch 1990 in verschiedenen Nato-Ländern operieren.
"Der Aufbau der Stay-behind-Organisationen der Nato-Staaten begann schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs", bestätigt ein offizieller Bericht der deutschen Regierung im Dezember 1990: "Die Einheiten der von den allierten Geheimdiensten auf deutschem Territorium bis 1955 aufgebauten Nachrichtenbeschaffungs- und Schleusungsorganisation wurden 1956 vom BND übernommen." In dem Bericht heißt es auch, dass die Organisation nicht, wie versprochen 1952 aufgelöst wurde. 104 Personen arbeiteten noch mit dem BND zusammen.
Allerdings wolle der Geheimdienst - nach Vereinbarungen mit den Verbündeten - die Organisation bis zum April 1991 auflösen. Der Kalte Krieg ist vorbei, die Geheimarmeen werden nicht mehr gebraucht.
Als Andreotti auspackte
Dem Bericht vorausgegangen waren Enthüllungen des italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti im Oktober 1990. Um sich von Mordverdacht und Mafiatätigkeiten freizukaufen, enthüllt Andreotti die Existenz einer italienischen Stay-behind-Organisation namens "Gladio", der lateinische Ausdruck für das römische Kurzschwert - auch ein Symbol des faschistischen Italiens unter Benito Mussolini. Die Gruppe bestehe aus Antikommunisten, unterhalte geheime Waffenlager und solle einen Untergrundkrieg im Falle einer sowjetischen Besatzung führen.
Andreotti verweist auch auf eine übergeordnete Befehlsstruktur der Nato - diesen Hinweis tilgt er aber wenig später aus dem Dossier. Das erste Mal seit den fünfziger Jahren erfährt man wieder etwas von einer Stay-behind-Organisation. Doch nicht nur Italien, auch die meisten anderen westeuropäischen Staaten räumen daraufhin zögerlich ein, dass ihre Länder geheime Armeen für den Fall der Fälle unterhalten würden.
Einen Monat später diskutiert das Europäische Parlament den "Gladio"-Skandal. Im Amtsblatt C 324/201 heißt es: "In der Erwägung, daß diese Organisation sich seit mehr als vierzig Jahren jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen konnte, und daß sie von den Geheimdiensten der betreffenden Staaten in Zusammenarbeit mit der Nato geleitet wurde", verurteilt das Europäische Parlament "die Einrichtung von geheimen Organisationen zwecks Einflußnahme und Durchführung von Aktionen" und fordert eine volle Aufklärung. Aber nur Belgien, die Schweiz und Italien richten parlamentarische Untersuchungskommissionen ein und veröffentlichen ihre Berichte.
Erst 18 Jahre später publiziert der Schweizer Historiker Daniele Ganser eine umfangreiche Studie über die Arbeit der Stay-behind-Organisationen. In elf Nato-Staaten und in den neutralen Ländern Schweden, Schweiz, Österreich und Finnland seien die "Stay-behind"-Organisationen tätig gewesen, heißt es dort.
Außerdem hätten die Gruppen auch in einigen Ländern massiv innenpolitisch interveniert - zumindest in Belgien, Griechenland, der Türkei, Frankreich und Italien, etwa beim Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980.
Ganser sieht in den geheimen paramilitärischen Stay-behind-Truppen der Nato zweierlei: Sie waren einerseits kluge Vorsichtsmaßnahme, aber auch Quelle des Missbrauchs und Terrors. "Es kann nicht hingenommen werden, dass Steuergelder dafür verwendet werden, Bürger zu töten", sagt er im Gespräch mit sueddeutsche.de.
Die Fakten zeigten, dass die Legislative "nicht in der Lage war, die Geheimarmeen wirksam zu kontrollieren. So etwas ist zwar aus totalitären Staaten bekannt - aber für Demokratien ist es zumindest überraschend", so Ganser weiter.
Eine umfassende Aufklärung scheitere aber daran, dass die Nato Protokolle und Aufzeichnungen über Stay-behind-Netzwerke bis heute nicht zugänglich mache.
Das Militärbündnis nahm offiziell im November 1990 zu den Vorwürfen Stellung, als ein Sprecher bestätigte, dass "die Nato niemals einen Guerillakrieg oder Geheimaktionen in Betracht gezogen hat. Sie hat sich immer mit den militärischen eigenen Angelegenheiten und der Verteidigung der allierten Grenzen" beschäftigt. Einen Tag später erklärte ein anderer Sprecher, dass die Nato niemals zu geheimen militärischen Angelegenheiten Stellung nehme, und deshalb der Bericht vom Vortag falsch sei. Dies war die einzige und letzte Stellungnahme - bis heute. Also bleiben auch fast zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Krieges die Stay-behind-Organisationen der Nato-Länder noch immer ein Rätsel.