Jean Pisani-Ferry, 64, ist Professor an der Hertie School of Governance in Berlin und Generaldirektor von France Stratégie in Paris.
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten verändert sich in mehreren westlichen Ländern gleichzeitig die politische Landschaft gravierend. Populistische Parteien stellen infrage, was bisher als politischer Konsens galt. Kandidaten, die sich selbst als Gegner des Systems definieren, bekommen Zulauf oder sind bereits an der Macht.
In den Vereinigten Staaten führt der Immobilienmogul Donald Trump das Feld der republikanischen Anwärter auf die Präsidentschaft an. In Frankreich bekam Marine Le Pens Nationale Front bei der ersten Runde der Regionalwahlen mehr Stimmen als ihre Gegner auf der Linken und der gemäßigten Rechten. Ähnliche Trends zeigen sich in Italien, den Niederlanden und Schweden.
In Dänemark und Finnland sind nationalistische Parteien Teil von Regierungskoalitionen. In Großbritannien kämpft Premierminister David Cameron einen schwierigen Kampf gegen die Unabhängigkeitspartei Ukip, damit sein Land in der EU bleiben kann. Ausnahmen von dem Trend sind bisher nur Deutschland und einige kleinere Länder.
Diese Parteien sind zwar alles andere als homogen, trotzdem haben sie einiges gemein. Sie lehnen Einwanderung ab und misstrauen nicht-westlichen Religionen. Einige, etwa in Ungarn und Polen, scheuen nicht einmal davor zurück, Bürgerrechte einzuschränken. Sie fordern die Renationalisierung wirtschaftlicher Macht, einige würden am liebsten Handel und Kapitalverkehr beschränken.
Zwar gelten sie meist als rechtsextrem, doch wollen einige - etwa der Front National -, dass der Staat massiv Kleinunternehmen und die Arbeiterklasse unterstützt. Es ist eine neue Kombination aus Nationalismus, autoritärem Denken und Staatsintervention, für die es - mit Ausnahme des Peronismus in Argentinien und des Putinismus in Russland -, seit dem Zweiten Weltkrieg kein Beispiel gibt. Eine neue Ideologie entsteht.
Viele Kommentatoren - auch viele Ökonomen - bringen den Aufstieg des Populismus mit den Folgen der Finanzkrise von 2008 in Verbindung. Da ist durchaus etwas dran. In den USA, und mehr noch in Europa waren die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Krise gewaltig.
Offensichtlicher Bösewicht fehlt
Einkommen in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts eines Jahres oder mehr wurden vernichtet. 2014 waren in den Industrieländern immer noch zwölf Millionen mehr Menschen arbeitslos als 2007. Trotzdem wurden nur wenige, die in den 2000er-Jahren Entscheidungen trafen, für ihr Versagen zur Verantwortung gezogen.
Da es keinen offensichtlichen Bösewicht gibt und nicht einmal einen Sündenbock, geben die Bürger verständlicherweise den Politikern die Schuld. In Europa hat die Krise außerdem die Bruchlinien im Konzept der Währungsunion sichtbar gemacht, wodurch diese zunehmend unpopulär wird.
Trotzdem reicht diese Erklärung nicht. Wäre die Finanzkrise die einzige Ursache, würde man die größten politischen Verwerfungen dort erwarten, wo die Wachstums- und Beschäftigungsverluste am schwersten waren. Das ist jedoch nicht der Fall: In Polen zum Beispiel ist das Pro-Kopf-Einkommen heute um ein Viertel höher als 2007, während es in Spanien um fünf Prozent niedriger liegt.