Unser Osten: Wirtschaft:Auferstanden aus Ruinen

Nach der Wende ließen die Märkte der Ost-Wirtschaft keine Chance: Statt blühender Landschaften entstanden Industrieruinen. Angetrieben vom Mittelstand holt der Osten nun auf - einige Westländer spüren den Atem der Verfolger. Eine Serie zu 20 Jahre deutsche Einheit.

Wolfgang Jaschensky

Von der großen Vergangenheit ist kaum mehr geblieben als die Hülle: Fabrikhallen und ein gewaltiger Uhrenturm. Darin stehen die letzten Zeugen dafür, dass in Wittenberge fast hundert Jahre lang Industriegeschichte geschrieben wurde: Die Singer 201 D1 zum Beispiel oder die Veritas 8014-2.

Die Globalisierung erreichte das brandenburgische Städtchen, lange bevor es das Wort überhaupt gab: Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der amerikanische Nähmaschinenhersteller Singer in Wittenberge eine Fabrik gebaut. Das Singer-Werk überstand zwei Weltkriege und als die DDR kam, bauten die Wittenberger weiter Nähmaschinen, die dann Veritas hießen. Nur die Wende, die überlebte die traditionsreiche Fertigungsstätte nicht. Das industrielle Herz von Wittenberge, einst "Stadt der Nähmaschinen" genannt, hörte auf zu schlagen.

Ralf von Hagen versucht seit vielen Jahren, das Gelände wiederzubeleben. Die Corealcredit Bank hat ihn als Zwangsverwalter für den Park eingesetzt. Seit Jahren müht sich der Wittenberger darum, hier Unternehmen anzusiedeln. Mit Erfolg: Knapp 50 Firmen haben sich inzwischen in den alten Gebäuden eingemietet. "Alles kleine Mittelständler", sagt von Hagen. "Damit haben wir zwar lange nicht so viel Arbeitsplätze wie früher, aber wenn jetzt mal eine Firma wegbricht, dann ist das nicht gleich so verheerend."

Was verheerend ist, mussten die Wittenberger Anfang der neunziger Jahre erleben. Nicht nur das Nähmaschinenwerk ging damals pleite, auch die Ölmühle und die Zellwollfabrik wurden abgewickelt. Wittenberge verlor 90 Prozent der Industriearbeitsplätze. Aus einer Industriestadt wurde innerhalb von zwei Jahren eine Industrieruine.

Die Wende traf Wittenberge härter als die meisten anderen Städte in Ostdeutschland, doch das Schicksal der Nähmaschinenfabrik ereilte Tausende DDR-Betriebe. Marode Infrastruktur, veraltete Maschinen und Technik, rapide steigende Lohnkosten und die gewaltige Aufwertung der Währung machten es den meisten Firmen unmöglich, konkurrenzfähige Produkte herzustellen. Reedereien und Werften, Kraftwerke und Chemiefabriken - die meisten Betriebe hatten keine Chance auf den Weltmärkten zu bestehen. 2,5 Millionen Arbeitsplätze gingen in den Nachwendejahren allein im verarbeitenden Gewerbe verloren.

Anreiz für Investitionen

Doch im Laufe der neunziger Jahre verbesserten sich langsam die Vorrausetzungen für die Unternehmen. Finanziert durch den Solidaritätszuschlag investierten Bund und Länder massiv in die Infrastruktur und erneuerten alles von den Straßen bis zu den Datennetzen. Neue Fabriken mit neuen Maschinen ließen die Produktivität nach oben schnellen.

Gleichzeitig entwickelten sich die Löhne nach dem rapiden Anstieg, den die Wende mit sich gebracht hatte, moderater. Der Flächentarifvertrag, mit dem Ostdeutschland nach der Wende überzogen wurde, bekam mehr und mehr Löcher.

Was schlecht für Einkommen und Kaufkraft ist, ist gut für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. "Dass Ostdeutschland heute einen so flexiblen Arbeitsmarkt hat, ist für mich eine der großen, positiven Überraschungen", sagt Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Im Jahr 2000 waren die Lohnstückkosten in Ostdeutschland erstmals geringer als im Westen - und so ein wichtiger Anreiz, um im Osten zu investieren.

Lohnstückkosten, Arbeitslosigkeit, Exporte: Wo der Osten wächst.

Der Osten auf der Überholspur

Das machte sich zeitlich verzögert auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Jahrelang war die Arbeitslosenquote im Osten mehr als doppelt so hoch wie im Westen. In der Wachstumsphase zwischen 2005 und 2009 wurden erstmals nennenswert neue Jobs in Ostdeutschland geschaffen. Weil gleichzeitig mehr Menschen in den Ruhestand gehen als auf den Arbeitsmarkt drängen, schließt sich die Schere zwischen Ost und West seither in einem erstaunlichen Tempo. Thüringen, mit einer Arbeitslosenquote von 9,1 Prozent derzeit das ostdeutsche Vorzeigeland, befindet sich bereits auf Augenhöhe mit Nordrhein-Westfalen. "Das muss man als Erfolg anerkennen", sagt Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle.

Unser Osten

Eine alte Fabrikhalle auf dem Gelände der Nähmaschinenfabrik in Wittenberge. Hier siedeln sich allmählich neue Firmen an.

(Foto: Wolfgang Jaschensky)

Nur beim Wirtschaftswachstum kommt der Osten nicht so recht voran. Noch immer liegt das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern um 30 Prozentpunkte unter dem der alten. Durch die Krise hat sich der Abstand zwar etwas verringert. "Das liegt aber vor allem daran, dass die Krise die Exporteure besonders gebeutelt hat - und der Zweig ist in den neuen Ländern noch immer weniger relevant", erklärt IWH-Ökonom Ludwig. Vom Aufschwung werde der Osten dafür auch weniger stark profitieren, prophezeit Ludwig. Obwohl bei den Exporten noch deutlich hinter dem Westen gelegen, haben die Ostländer ordentlich aufgeholt. Die Quote ist heute dreimal so hoch wie Mitte der neunziger Jahre.

Die Leuchttürme

Lohnstückkosten, Arbeitslosigkeit, Exporte: Die Liste der Indikatoren, die die Aufholjagd des Osten belegen, lässt sich weiter fortsetzen. Das zeigt sich auch in dem Bundesländer-Ranking des Instituts für Wirtschaftsforschung in Köln.

Die Wissenschaftler bewerten unter Berücksichtigung von 100 Faktoren, die vom Bruttoinlandsprodukt bis zur Kita-Betreuungsquote reichen, welche Bundesländer in den vergangenen drei Jahren die größte wirtschaftliche Dynamik aufgewiesen haben. Wie schon im Vorjahr versammelten sich auf den Plätzen eins bis sechs alle Ostländer. Brandenburg löste in diesem Jahr den Vorjahressieger Sachsen-Anhalt ab. Die Studie macht auch deutlich: In vielen Bereichen müssen sich Thüringen, Sachsen und Brandenburg nicht mehr vor Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz verstecken.

Vorreiter dieser Aufholjagd ist die Industrie. Der Anteil Ostdeutschlands an der gesamtdeutschen Industrieproduktion hat sich seit Anfang der neunziger Jahre verdreifacht und längst produzieren die Firmen hier mehr als zu DDR-Zeiten. Greifbar wird das vor allem in den regionalen Clustern mit hochspezialisiertem Mittelstand: Maschinenbau um Chemnitz, Optik in Jena, Halbleiter um Dresden oder Photovoltaik im Raum Bitterfeld.

Strukturschwächere Gebiete wie Wittenberge und das Umland oder die Lausitz müssen achtgeben, nicht abgehängt zu werden. Doch auch hier entstehen neue Arbeitsplätze. Neben den kleinen Betrieben im Nähmaschinenwerk wachsen in Wittenberge auch auf dem Gelände der alten Zellstofffabrik Firmen wie die Prignitzer Chemie, die mit Ölen aus nachwachsenden Rohstoffen die Kosmetikindustrie beliefert.

Auch im früheren Gaskombinat Schwarze Pumpe verdrängen neue Unternehmen die Tristesse der Braunkohle. Der Silicium-Hersteller Schmid baut hier gerade eine Pilotanlage, in der der Rohstoff für die Halbleiter- und Photovoltaikindustrie künftig mit deutlich geringerem Energiebedarf hergestellt werden soll.

Das große Manko kleiner Firmen

Trotz dieser Fortschritte ist eines im Osten noch nicht entstanden: ein Großkonzern. Unter den hundert umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland findet sich keines mit Firmensitz in den ostdeutschen Flächenländern. Aus Sicht des Ökonomen Ludwig liegt das nicht nur an der DDR-Vergangenheit, sondern auch an der Strategie der Treuhand. "Die Treuhand hat geglaubt, die Unternehmen nur in kleinen Häppchen veräußern zu können", sagt Ludwig. "Das wirkt bis heute." Da kleine Firmen im Durchschnitt weniger produktiv sind als große, drückt der Mangel an Konzernen auch auf die Produktivität.

DIW-Chef Zimmermann sieht das Problem pragmatisch: "Großkonzerne sind in Westdeutschland auch erst über viele Jahrzehnte entstanden." Die Industrie in Ostdeutschland sieht er ohnehin auf einem guten Weg. Besser müssten sich die Dienstleistungen entwickeln - vor allem die überregionalen.

Der Boom im Tourismus und wie in Leipzig ein junger Mann aus dem Nichts zum Internetmillionär wurde

Dass mit Dienstleistungen auch im Osten großes Geld verdient werden kann, beweist Thomas Wagner. Mit Turnschuhen, Jeans und Polohemd residiert der Chef der Unternehmensgruppe Unister in der Leipziger Innenstadt. Hier hat er eine Erfolgsgeschichte geschrieben, wie man sie eigentlich nur aus den USA kennt. Wagner, Jahrgang 1978, betreibt zahlreiche Internetportale - und verdient damit Geld.

Vor acht Jahren gründete Wagner, damals noch Student, Unister. Das erste Projekt, eine studentische Tauschbörse, floppte. Doch Wagner hat aus den Fehlern gelernt und aus dem Zwei-Mann-Start-up eine profitable Unternehmensgruppe mit 800 Mitarbeitern und dreistelligen Millionenumsätzen geformt. Sein Erfolgsrezept: einfache Domains (auto.de, reisen.de, news.de) und eine aggressive Suchmaschinenoptimierung.

Am meisten Geld verdient Wagner mit dem Verkauf von Reisen über seine Portale. Hier will er nun die internationalen Märkte erobern - und das Internet verlassen. Sein kühnes Projekt: Deutschland mit einer neuen Hotelkette überziehen.

Die Erfolgsaussichten sind gut: Zum einen kann Wagner die Hotels über seine Reise-Seiten promoten, zum anderen steigen die Übernachtungszahl in Deutschland seit Jahren deutlich an - besonders in Osten.

Boom an der Ostsee

Die erstaunliche Entwicklung des Tourismus im Osten wird oft vergessen. Politik und Medien stürzen sich lieber auf eine spektakuläre neue Halbleiterfabrik in Dresden oder ein Autowerk in Leipzig, dabei schaffen Restaurants, Hotels und Campingplätze viele Arbeitsplätze.

Berlin ist mit mehr als fünf Millionen Gästen pro Jahr mit weitem Abstand Reiseziel Nummer eins in Deutschland. Noch erstaunlicher ist die Entwicklung von Mecklenburg-Vorpommern. Gemessen an der Einwohnerzahl führt das nördlichste ostdeutsche Bundesland die Tourismusstatistik mit weitem Abstand an. Hauptattraktion ist natürlich die Ostsee. Aber auch die Mecklenburgische Seenplatte, und die Welterbestädte Stralsund und Wismar verzeichnen Jahr für Jahr steigende Besucherzahlen.

"Der Tourismus ist für Mecklenburg-Vorpommern ein entscheidender Wirtschaftsfaktor", sagt Steffi Behrendt. Die 33-Jährige kam vor sieben Jahren aus Berlin nach Stralsund, um den Titel Unesco Weltkulturerbe zu vermarkten, den die Stadt damals verliehen bekam. "Daran hatte nach der Wende kaum ein Stralsunder geglaubt", sagt Behrendt. Die Hansestadt lag 1990 so gut wie in Trümmern, heute lockt sie mit sanierter Backsteingotik, Kunst und Kultur jährlich eineinhalb Millionen Tagesgäste. Zum Besuchermagneten entwickelt sich das Ozeaneum, das dieses Jahr zu "Europas Museum des Jahres" gewählt wurde. Mehr als 8000 Besucher strömen an guten Tagen in den spektakulären Neubau, um die Bewohner der Ostsee und der nördliche Meere in riesigen Aquarien zu sehen.

Auch Wittenberge setzt auf Tourismus. Die Stadt liegt am Elberadweg, dem beliebtesten Radweg der Republik. In der Alten Ölmühle, die direkt an der Elbe liegt, soll ein neues Hotel entstehen und Urlauber in die Stadt bringen. Bislang fahren die meisten Radler an Wittenberge vorbei. Daran ändert auch das Nähmaschinenmuseum im Uhrenturm nichts.

Hier finden Sie die gesamte multimediale Reportage "Unser Osten" mit vielen Filmen, Reportagen, Bildern und Fakten.

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