Süddeutsche Zeitung

Unser Osten: Politik:Genossen, unverdrossen!

Die politische Einheit war zwischen Ost und West schnell hergestellt, aber sind auch die Menschen im neuen System angekommen? Die überwältigende Mehrheit liebt und lebt die Demokratie - doch einige Ostdeutsche haben sich im vereinten Deutschland nie zurechtgefunden.

Wolfgang Jaschensky

Helga Nickich zögert. Zum ersten Mal in dem langen Gespräch. Dabei hat sie schon unzählige Male über dieses Thema gesprochen. Mit Schulkindern. Mit Senioren. Mit den Bürgern ihrer Stadt. Es ist das Thema ihres Lebens. Aber jetzt läuft eine Kamera. Und das Thema ihres Lebens ist heikel.

Sie legt ihren Kopf von der einen Seite auf die andere. Dann beginnt sie: "Diese Stigmatisierung der Stadt ..."

Die Stadt, das ist Hoyerswerda. Und das Stigma, das sind die Rechtsradikalen. Mit diesem Stigma muss die Stadt leben, seit 1991 ein rechter Mob unter dem Beifall vieler Bürger Jagd auf Migranten und Asylbewerber gemacht hat, die Stadt eine Woche lang in den Ausnahmezustand versetzt und in die Nachrichten rund um den Globus gebracht hat.

Die Ausschreitungen von damals waren für Helga Nickich der Auslöser, sich gegen Rechtsradikalismus und für Demokratie zu engagieren. Sie hat die RAA Hoyerswerda gegründet, einen Verein, der sich der Arbeit für Toleranz und gegen Rechtsextremismus und Gewalt verschrieben hat, der Bildung und Demokratiebewusstsein bei den jungen Menschen in Hoyerswerda fördern möchte.

Wenn Helga Nickich nun danach gefragt wird, wie es mit den Rechten in Hoyerswerda heute aussieht, dann möchte sie nichts beschönigen. Aber selbst Helga Nickich hat es satt, dass Rechtsradikale genauso selbstverständlich zu Hoyerswerda gedacht werden wie Lederhosen zu München.

Deshalb sagt sie: "Diese Stigmatisierung der Stadt und die vielen Aktivitäten, die stattgefunden haben und stattfinden, haben bei unseren Menschen ein anderes Bewusstsein ausgelöst. Wenn jetzt mal ein Aufmarsch der Rechten in Hoyerswerda ansteht, dann gibt es eine Bandbreite von Initiativen, die zumindest versuchen, etwas dagegen zu tun."

19 Jahre sind seit den Ausschreitungen vergangen. 19 Jahre, in denen viel passiert ist in Hoyerswerda, aber kein großer Zwischenfall mit Rechten. Und trotzdem denken viele Menschen, wenn sie Hoyerswerda hören, an jene Tage im September 1991. "Hoyerswerda, da war doch ...".

"Ja, da war", sagt Helga Nickick. "Aber heute ist von den Rechten in Hoyerswerda nicht mehr viel zu sehen." Bei Wahlen schneidet die NPD schlechter ab als im Landesdurchschnitt und die offene rechte Szene ist aus Hoyerswerda verschwunden.

Zu diesem Erfolg hat auch Helga Nickich beigetragen. Wer ihre Arbeit würdigen möchte, der müsste von Hunderten Projekten erzählen und von Tausenden Jugendlichen, der müsste Netzwerke beschreiben, in welchen Dutzende Gruppen und Organisationen verzahnt sind.

Mit ihrem Engagement ist Helga Nickich in Hoyerswerda nicht allein. Fast 300 Vereine, Gruppen und Verbände listet die Homepage der Stadt auf, von "Aktion Eine Welt" bis zu den "Zoofreunden".

Das bürgerliche Engagement in dieser schrumpfenden Stadt muss den Vergleich mit jenem in westlichen Städten nicht scheuen. Und das gilt nicht nur in Hoyerswerda. Die Zivilgesellschaft hat sich in Ostdeutschland etabliert, wie Forschungsergebnisse belegen: "Die Zivilgesellschaft hat sich nach der Wende kräftig und flächendeckend entwickelt", heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2009, die die Entwicklung des Engagements von Bürgern in Vereinen, Gruppen und Organisationen untersucht.

Fast jeder dritte Ostdeutsche engagiert sich in einem Verein oder einer Organisation - nur sechs Prozentpunkte weniger als in Westdeutschland so das Ergebnis des "Freiwilligensurveys", einer Erhebung im Auftrag der Bundesregierung. "Der Abstand dürfte sich weiter verringern, denn die Dynamik ist höher als in Westdeutschland", sagt Thomas Olk von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, einer der Autoren der Studie.

Die erste Bundestagswahl fand zwei Monate nach der Wiedervereinigung statt und die Westparteien fassten schnell Fuß im Osten. Allerdings durfte sich die Integration Ostdeutschlands nicht im Transfer demokratischer Institutionen erschöpfen, sondern war auf die Unterstützung durch eine demokratische Kultur angewiesen.

"Gerade angesichts der DDR-Vergangenheit ist die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland eine beachtliche Leistung", sagt Olk. Die Massenorganisationen, die in der DDR die "gesellschaftliche Arbeit" regelten, waren fest in das politische System integriert und verschwanden nach der Wende weitgehend. Dem gesellschaftlichen Engagement fehlte nach der Wende jegliche Infrastruktur.

Die Bürgerbewegungen konnte diese Lücke nicht füllen - aber sie waren oft ein Ausgangspunkt für den Aufbau der Zivilgesellschaft. Zum Beispiel in Leipzig. Hier ist Christian Führer als Pastor der Nikolaikirche zu einer Ikone der friedlichen Revolution geworden. Nach dem Mauerfall war ihm schnell klar, dass die Euphorie der Wende schnell von neuen Problemen geschluckt wird. "Den Arbeitskreis 'Hoffnung für Ausreisewillige' haben wir schon im 1989 nicht mehr gebraucht. Den Arbeitskreis 'Hoffnung für Arbeitslose' habe ich dann 1990 gegründet."

Daraus entwickelte sich schließlich die Kirchliche Erwerbsloseninitiative Leipzig. 4000 Menschen haben die Mitarbeiter allein im ersten Halbjahr 2010 geholfen. Die Unterstützung reicht von Schuldnerberatung über Hartz-IV-Beratung bis hin zu psychologischer Lebenshilfe. Dorothea Klein arbeitet dort seit zehn Jahren jeden Tag mit Arbeitslosen. Sie sagt: "Der biographische Knick ist immer noch zu spüren." Vor allem viele ältere Menschen haben sich im neuen System nie zurechtgefunden.

"Man darf nicht vergessen, dass viele, die 1989 in Leipzig auf die Straße gegangen sind und 'Wir sind das Volk' gerufen haben, andere Träume hatten als ein Leben im Turbo-Kapitalismus", sagt Klein. Viele der Menschen, die zu ihr in die Erwerbloseninitiative kommen, hatten zu DDR-Zeiten Arbeit und Auskommen - und kommen seit der Einheit mit dem Leben nicht klar.

"Natürlich sind viele Menschen desillusioniert worden", sagt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, der 1991 als Schulleiter des Evangelischen Schulzentrums Leipzig vom Siegerland nach Sachsen gezogen ist. "Anfangs hatte man das Gefühl, dass die Menschen einen halben Meter über dem Boden schweben. Dass das nicht ewig gehen kann, ist doch klar."

Trotzdem: Nach vier Jahren im Amt ist Jung fest davon überzeugt, dass die Leipziger weniger politikverdrossen sind als viele Westbürger. "Die Bürger von Leipzig haben ein ausgeprägtes Verlangen nach Mitsprache", sagt Jung. Vom Kindergarten bis zur Gestaltung eines Parks: Die Leipziger erwarten, dass die Stadt sie in die Entscheidungen einbindet.

Die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland weist allerdings in eine andere Richtung. Bei der letzten Bundestagswahl gingen in allen fünf ostdeutschen Flächenländern prozentual deutlich weniger Bürger an die Urne als im Bundesdurchschnitt. "Daraus kann man aber nicht schließen, dass die Ostdeutschen besonders politikverdrossen sind", sagt Oskar Niedermayer, der seit langem über die Einstellung der Deutschen zu Demokratie, Politik und Parteien forscht. Verdrossenheit sei eine Motivation, nicht zur Wahl zu gehen, aber nur eine unter vielen.

In seinen Untersuchungen konnte Niedermayer durchaus Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen ausmachen. Die Zustimmung für die Demokratie ist in Westdeutschland etwas größer, aber auch im Osten zählt Niedermayer nur sechs Prozent der Menschen zu jenen, die mit der Demokratie grundsätzlich nicht einverstanden sind. Bei der Einstellung gegenüber Parteien verschwinden die Unterschiede zwischen Ost und West fast vollständig. "Gerade von einer Parteienverdrossenheit kann keine Rede sein", so Niedermayer.

Helge Nickich weiß, dass es oft schwer ist, junge Menschen für Demokratie zu interessieren und zu begeistern. Und sie weiß, dass Rechtsextremismus in Ostdeutschland noch immer ein großes Problem ist. In einige Landtage sind rechtsextreme Parteien eingezogen, Gewalt gegen Ausländer kommt deutlich häufiger vor als im Westen und der Anteil der gewalttätigen Jugendlichen und Neonazis ist ebenfalls größer und in manchen ländlichen Räumen infiltrieren rechtsextreme Einstellungen die Jugend-Subkultur.

"Manchmal wünsche ich mir, eine Million Euro zu haben", sagt Nickich. "Nicht für mich, sondern um endlich neue Projekte angehen zu können, ohne vorher zwei Jahre betteln zu müssen."

Vielleicht hat Thomas de Maizière diesen Wunsch vernommen. Anfang September stellte der Bundesinnenminister das Programm "Zusammenhalt durch Teilhabe vor". In den kommenden vier Jahren will die Bundesregierung 18 Millionen Euro zur Stärkung der Demokratie und Bekämpfung von Rechtsextremismus in Ostdeutschland investieren. Ein Förderprogramm, maßgeschneidert für Helga Nickich.

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