Unser Osten: Demographie:Leben nach der Platte

Die Abwanderung nach West geht zurück, Ostdeutsche bekommen wieder mehr Kinder, Städte wie Leipzig boomen: Zwanzig Jahre nach der Einheit wird der Osten attraktiver. Doch viele Städte sind von dieser Entwicklung abgehängt.

Wolfgang Jaschensky

Der Nachthimmel über der Neustadt ist klar. Die weite Straße ist schummrig beleuchtet, weit und breit kein Auto und keine Menschen. Hier ist das Dock 28, der letzte verbliebene Jugendklub in Hoyerswerda.

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Dock 28, der letzte verbliebene Jugendklub in Hoyerswerda

(Foto: Wolfgang Jaschensky)

Versteckt hinter einem Baum führt eine Treppe ins Souterrain. Ein Gang weiter ein menschenleerer Raum. Rechts ein Käfig mit Soundsystem, links durchgesessene Sofas. Graffiti und Gekritzel an den Wänden erinnern an bessere Zeiten, als das Dock an manchen Abenden aus allen Nähten geplatzt ist.

Jede Woche hat eine Punkband gespielt und Hunderte haben sich in den kleinen Klub gedrängt. "Bis auf die Straße raus sind die Leute gestanden", sagt Peter Stöwesandt, der den Jugendklub ehrenamtlich leitet, "aber das ist schon eine Weile her". Ab und an spielt hier noch eine Band, aber meistens ist nichts geboten. Dann kommen mal fünf, mal zehn, an guten Abenden zwanzig junge Erwachsene hierher.

Dabei ist das Dock "der einzige Ort, an den man hingehen kann, wenn man kein Kind mehr ist und noch nicht uralt", sagt eine, die seit Jahren kommt. "Die Jugend ist weg. Die sieht hier keine Zukunft mehr", sagt Stöwesandt. Er selbst muss von Hartz IV und Ein-Euro-Jobs leben.

Früher, da war hier alles anders, sagen die, die sich an früher erinnern. Früher, da wuchs Hoyerswerda in atemberaubendem Tempo, da wurde neben dem kleinen 7000-Einwohner-Städtchen die zweite sozialistische Wohnstadt der DDR errichtet und "Hoywoy" zur Heimat für mehr als 70.000 DDR-Bürger. Früher, da hatten hier alle Arbeit, die meisten in Schwarze Pumpe, dem größten Braunkohleveredlungskombinat in Europa. Früher, da war Hoyerswerda die jüngste Stadt der DDR.

Seit der Wende geht es bergab: Mehr als 30.000 Menschen sind weggezogen - vor allem die Jungen. In zehn Jahren wird fast jeder zweite Bewohner mehr als 60 Jahre alt sein. Überall in Hoyerswerda wird diese Entwicklung sichtbar. Auf dem verwaisten Spielplatz, zwischen den Betonplatten, wo Gräser und Unkraut gedeihen und natürlich auf den riesigen Brachen, die Abrissbirnen und Planierraupen hinterlassen haben.

Rückbau Ost

Hoyerswerda ist kein Einzelfall. Seit der Wende ist Ostdeutschland um drei Millionen Einwohner geschrumpft, zeitweise standen mehr als eine Million Wohnungen leer. Die Folge: Abrissbirnen und Planierraupen sind durch die Plattenbausiedlungen in Halle und Eisenhüttenstadt, in Wittenberge und Wismar gezogen.

In der Sprache der Stadtplaner heißt das Rückbau, in der Sprache der Bundesregierung "Stadtumbau Ost". Finanziert wird der zu weiten Teilen durch das gleichnamige Bund-Länder Programm. In den Jahren 2002 bis 2009 wurden insgesamt 2,5 Milliarden Euro in den Abriss investiert. Erklärtes Ziel des Programms ist "eine Stärkung der Innenstädte, die Reduzierung des Angebotsüberhangs an Wohnraum und die Aufwertung der von Schrumpfungsprozessen betroffenen Städte".

Es hat lange gedauert, bis sich in der Politik die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass das eherne Gesetz immerwährenden Wachstums im Osten nicht gilt. In Hoyerswerda haben Planer und Politiker viel zu lange versucht, die Stadt in ihrer geographischen Größe zu erhalten. Statt von außen nach innen zu schrumpfen wurde die Stadt durchlöchert wie ein Schweizer Käse. "Der größte Fehler war, das Zentrum der Neustadt abzureißen, damit hat man Hoyerswerda die Nase aus dem Gesicht gerissen", sagt die Architektin und Stadtplanerin Dorit Baumeister. Sie ist in Hoyerswerda aufgewachsen und widmet ihre Karriere nun ihrer schrumpfenden Heimat.

Geburten, Lehrstellen und boomende Metropolen: Geht es aufwärts im Osten?

Ein Ende der Abwanderung?

Aus diesen Fehlern hat Hoyerswerda gelernt. Heute geht es nicht mehr darum, einzelne Platten abzureißen - ganze Viertel, die hier "Wohnkomplexe" (WK) heißen, werden platt gemacht und der Natur übergeben. Im Stadtentwicklungskonzept von 2008 heißt es: "Mit dem Rückbau von Außen nach Innen werden langfristig die Wohnungsstandorte der äußeren Neustadt (WK 8, WK 9 und WK 10) aufgegeben. An den Rändern des WK 4, WK 5e, WK 6 und WK 7 werden großflächige Rückbauten von Wohngebäuden vorgesehen."

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Die Plattenbauten im WK 10 in Hoyerswerda wurden zur Wende fertiggestellt - nun werden sie abgerissen.

(Foto: Wolfgang Jaschensky)

In Wittenberge sind die ersten Erfolge eines solchen Konzepts bereits zu sehen. Die brandenburgische Provinzstadt muss mit einem ähnlich dramatischen Bevölkerungsrückgang kämpfen wie Hoyerswerda. Von vier großen Industriebetrieben überlebte hier nur eines die Deindustrialisierung nach der Wende - die Einwohnerzahl brach von 30.000 auf unter 19.000 ein. Obwohl die Stadt insgesamt weiter schrumpft, wächst inzwischen die Innenstadt. "Wir verzeichnen hier einen Einwohnerzuwachs von fast zehn Prozent, außerdem ziehen vor allem Familien mit Kindern hierher", sagt Petra Lüdtke vom städtischen Bauamt. "Das zeigt, dass unsere Strategie aufgeht."

Wo der Osten den Westen überholt

Trotz dieser positiven Entwicklung rechnet die Kommune in den kommenden Jahren mit weiter schrumpfenden Einwohnerzahlen. Bis 2020 könnte die Stadt nach Prognosen des statistischen Landesamtes nochmals um 3000 Einwohner schrumpfen. Allerdings gehen die Experten nicht davon aus, dass weiterhin in größerem Umfang die Menschen Wittenberge verlassen. Künftig wird Wittenberge vor allem schrumpfen, weil in der überalterten Stadt viel mehr Menschen sterben als Kinder geboren werden. Sofern es der Stadt nicht gelingt, junge Menschen anzuziehen, wird es lange dauern, bis sich daran etwas ändert.

Hoffnung macht die Entwicklung der Geburtenrate. Nach der Wende hörten die Ostdeutschen schlagartig auf, Nachwuchs zu zeugen. Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau brach dramatisch ein - von 1,52 im Jahr 1990 auf 0,84 im Jahr 1995. Seither geht es wieder stetig aufwärts mit den Geburten im Osten. 2008 haben die neuen Länder erstmals den Westen überholt.

Auch die Abwanderung von Ostdeutschen nimmt ab. 2009 sind zwölf Prozent weniger in den Westen gezogen als im Jahr zuvor, gleichzeitig sind mehr Menschen von West nach Ost gezogen. Klaus Friedrich, Professor für Sozialgeographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, will angesichts der jüngsten Wanderungsstatistik nicht von einer Trendwende reden, ist sich aber sicher, dass die Trendwende kommen wird. "Moderne Wanderungsprozesse laufen zirkulär ab", erklärt Friedrich. "Viele junge Ostdeutsche, die jetzt im Westen gut ausgebildet werden und erste Berufserfahrung sammeln, werden zurückkommen, wenn sie im Osten eine Perspektive haben."

Sicher ist schon jetzt: Angesichts der geburtenschwachen Jahrgänge Anfang der neunziger Jahre muss kein Jugendlicher mehr den Osten verlassen, um eine Lehrstelle zu ergattern. Während viele Jahre der Lehrstellenmangel Schulabgänger in den Westen trieb, müssen Unternehmen im Osten heute fürchten, ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen zu können. Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, schlägt bereits Alarm: Der Mangel an qualifizierten Bewerbern habe im Osten "dramatische Ausmaße" angenommen.

Wenn die jungen Frauen kommen

Allerdings ziehen nur wenige Jugendliche für einen Ausbildungsplatz in die Ferne. Ob und wie sehr das Überangebot an Lehrstellen dafür sorgt, dass Westdeutsche in den Osten gehen, muss sich zeigen. Deutlich höher ist die Mobilität unter Studenten. Da es an westdeutschen Unis immer enger wird und den Hochschulen im Osten der Nachwuchs fehlt, versucht die Bundesregierung, das Studenten-Tal Ost mit Hilfe des Studenten-Berges West auszugleichen. Nach einer ersten Zwischenbilanz des Centrums für Hochschulentwicklung scheint der Plan noch besser aufzugehen als kalkuliert: Während der Westen weit unter dem im Hochschulpakt vorgeschriebenen Soll blieb, übertraf der Osten die Erwartungen.

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Das Wunder von Leipzig

Die großen Städte im Osten profitieren seit langem von der Zugkraft ihrer Universitäten. "Wir haben den Riesenvorteil, dass wir mit unserer Universität viele junge Leute anziehen, davon profitiert die ganze Stadt ungemein", sagt Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig. Als Jung 1991 aus Siegen nach Leipzig kam, lag über dem Studienort noch der Muff der Karl-Marx-Universität. Als er 2006 zum Bürgermeister gewählt wurde, hat sich die Zahl der Studienanfänger bereits verdoppelt.

Heute büffeln in Leipzig mehr als 28.000 Studenten für einen Abschluss. Gegen den gesamtdeutschen Trend wächst in Leipzig auch die Gruppe der 25- bis 30-jährigen Stadtbewohner, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer Studie herausfand. Auffällig ist auch der starke Zuwachs von 25- bis 30-jährigen Frauen - der ist im vergangenen Jahrzehnt um 40 Prozent gestiegen. "Offenbar bleiben viele nach dem Studium verstärkt an den Hochschulstandorten", vermuten die DIW-Experten.

"Sonst geht gar nichts!"

Das zahlt sich für die Stadt aus: Während unmittelbar nach der Wende viele Leipziger ihre Stadt gen Westen verließen, verzeichnet das Rathaus seit Jahren zwölf Jahren einen stetigen Zuzug. Um mehr als 80.000 Menschen ist Leipzig seit 1998 gewachsen. Noch größer ist der Boom in Dresden. Die Stadt verzeichnet vor Leipzig und nach München die höchste Zugzugsrate in ganz Deutschland.

Von solchen Entwicklungen kann Hoyerswerda nur träumen. Die Stadt packt die demographische Katastrophe in nüchterne Worte: "Die Alterspyramide der Bevölkerung hat sich umgekehrt und entspricht nicht dem idealen Verhältnis zwischen den jüngeren und älteren Bevölkerungsgruppen", heißt es in dem Stadtentwicklungskonzept aus dem Jahr 2007. Und: "Ihre Struktur wird sich auch über die nächsten Generationen nicht mehr verändern."

Der Stadt fehlen nicht nur die jungen Menschen, sondern auch die finanziellen Mittel, um mehr zu bieten.Das spürt auch Peter Stöwesandt im Dock 28. Er ist stolz darauf, dass der Jugendklub schon immer ohne regelmäßige Unterstützung von der Stadt auskommt. "Man muss hier aus ganz wenig ganz viel machen, sonst geht gar nichts", sagt Stöwesandt.

Er will kämpfen. Wenigstens das Dock 28 soll bleiben.

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