Thomas Ruttig vom Afghanistan Analyst Network hat viele Jahre in Afghanistan und Pakistan verbracht. Der studierte Afghanist arbeitete unter anderem für die Vereinten Nationen, die deutsche Botschaft in Kabul und die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Süddeutsche.de: Herr Ruttig, seit Dienstag gibt es blutige Proteste in Afghanistan wegen der Verbrennung von Koran-Exemplaren durch US-Soldaten. Überrascht Sie die Intensität der Unruhen?
Thomas Ruttig: Überraschend ist für mich vor allem die Verhaltensweise der Amerikaner. Seit bald zwölf Jahren engagieren sie sich in Afghanistan. Trotzdem scheinen sie immer noch nicht gemerkt zu haben, dass es sich um ein islamisches Land handelt und die meisten Menschen sehr religiös sind. Für viele Afghanen ist ein Verbrennen des Koran völlig inakzeptabel. Dass ein solcher Vorfall große Wut hervorruft und auch zu Gewalt führt, war absehbar.
SZ: Das US-Militär bedauert die Verbrennung, US-Präsident Obama hat sich entschuldigt. Ist das die richtige Reaktion?
Ruttig: Bei aller Hochachtung: Solche Erklärungen werden nicht mehr viel bewirken. Die Afghanen haben von den Amerikanern schon viel zu viele Entschuldigungen gehört, ohne dass sich hinterher etwas grundsätzlich änderte: für nächtliche Durchsuchungen, bei denen Leute mitgenommen werden, über deren Verbleib die Verwandten erst mal nichts hören. Für all die getöteten Zivilisten, die als sogenannte Kollateralschäden bezeichnet werden.
SZ: Gehen die Menschen in Afghanistan nur wegen der Koranverbrennung auf die Straße, oder speist sich der Protest noch aus anderen Quellen?
Ruttig: Diese Demonstrationen kommen wohl aus einer Kombinationen zustande: Da ist viel spontaner Zorn, der auf der anderen Seite zusätzlich von organisierenden Händen forciert wird. Selbst in der afghanischen Regierung und im Parlament gibt es islamistische Gruppen, die einen solchen Vorfall benutzen, um ihr eigenes politisches Süppchen zu kochen.
SZ: Inzwischen weitet sich der Protest immer stärker aus - droht ein Flächenbrand?
Ruttig: Ausschließen kann man in Afghanistan nichts, natürlich könnten die Demonstrationen eskalieren. Aber ein landesweiter Proteststurm ist das bislang noch nicht. Die breite Bevölkerung ist noch nicht auf der Straße, was wohl auch an den Mitorganisatoren liegt. Denn unter den afghanischen Politikern, die nun Aufrufe gegen die Amerikaner gestartet haben, sind nicht wenige, die eine finstere Vergangenheit haben. Viele Afghanen sind über die Verbrennungen empört, aber möchten sich nicht mit Leuten, die Blut an den Händen haben, gemein machen.
SZ: Wie kann man die Lage wieder beruhigen?
Ruttig: Ich glaube nicht, dass die Amerikaner etwas tun können, um die Lage kurzfristig zu entspannen. Obama hat sich entschuldigt, höherrangig geht es nicht mehr. Wichtig wäre, dass endlich auch dem letzten Soldaten klar ist, dass man sich in religiösen Dingen hochsensibel verhalten muss - das ist ja in den USA auch nicht anders. Dass dieses Bewusstsein nicht vorhanden ist, offenbart, wie wenig sich die Amerikaner bislang mit Land und Leuten in Afghanistan beschäftigt haben.
SZ: Wie wirken sich solche Vorfälle auf die Arbeit von ausländischen Organisationen in Afghanistan aus?
Ruttig: Natürlich negativ. Auch dafür könnten sich die Amerikaner mal entschuldigen. Die Gefahren steigen für zivile Helfer und Ausländer allgemein, aber auch für afghanische Journalisten, die bei den Islamisten ohnehin als verdächtig gelten, weil sie ihnen zu liberal erscheinen. Sie müssen fürchten, von den aufgebrachten Demonstranten mit den Amerikanern in einen Topf geworfen zu werden.
SZ: Die Bundeswehr räumt unter dem Eindruck der Ausschreitungen einen Stützpunkt - eine richtige strategische Entscheidung?
Ruttig: Es ist richtig, den Gesamtabzug zu planen, allerdings erst nach getaner Arbeit. Den Entschluss, den Stützpunkt Talokan zuerst aufzugeben, halte ich für kontraproduktiv, denn er befand sich mitten in der Stadt und war zugänglich. Die anderen Camps sind abgelegene und extrem gesicherte Festungen, wo man mit den Afghanen schwer in Interaktion treten kann.
SZ: Sie klingen ziemlich ernüchtert.
Ruttig: Der Vorgang ist bezeichnend dafür, wie die Bundeswehr bislang agiert hat und wie politische Vorgaben durchschlagen: Eigenschutz geht immer vor den Schutz afghanischer und ausländischer Zivilisten und Institutionen. In der Vergangenheit kam es schon mehrfach zu Demonstrationen, die ausuferten, bei denen nicht geholfen wurde und somit der eigene Anspruch ad absurdum geführt wurde, den Wiederaufbau zu schützen.
SZ: Sie haben viel Zeit in Afghanistan verbracht. Zum Beispiel waren Sie 2001 vor Ort, als die Taliban noch herrschten. Wie hat sich das Bild der Afghanen von den Ausländern seither gewandelt?
Ruttig: Das Vertrauen und die Hoffnung der Afghanen auf den Westen waren damals überwältigend. Das erste Mal in der Geschichte wünschten sich die Afghanen, dass sich ausländische Staaten militärisch und zivil engagieren. Die Ausländer kamen mit dem Vorsatz, das Land zu stabilisieren und dem Land zu helfen, erste Schritte hin zu einer Demokratie zu machen. Die meisten Afghanen hofften aber auch auf Selbstbestimmung. Was sie nicht wollten, war, dass man ihnen ständig sagt, was sie zu tun haben. Nach elf Jahren müssen wir feststellen: Man hat in den Köpfen mehr kaputtgemacht, als physisch aufgebaut.
SZ: Wie lautet Ihre Prognose für die Zeit nach dem Abzug der westlichen Truppen?
Ruttig: Ich erwarte, dass mit den Soldaten aus Afghanistan auch viele Ressourcen abgezogen werden, zugleich wird das Interesse für das Land schwinden. Wir stecken in einer Sackgasse, aus der wir uns nur befreien können, wenn wir den Umgang mit den Afghanen grundlegend ändern: Dass man sie nicht gängelt, sondern sensibel handelt. Dass US-Soldaten Exemplare des Korans verbrennen, zeigt auf besonders drastische Weise, wie weit wir vom richtigen Weg entfernt sind.