"Investing in Woolwich", wirbt ein Schild, unter dem Schriftzug prangt das Bild eines prosperierenden Straßenzuges. Krasser könnte der Kontrast nicht sein: Denn hinter der Reklame steht ein Straßenzug in Flammen. Lichterloh brennt der Pub, den Jugendliche im Osten Londons angesteckt haben. Nun liegt der Brandgeruch auch über Woolwich, dem aufstrebenden Kasernenviertel, wo im kommenden Jahr die Sportschützen-Wettbewerbe der Olympischen Sommerspiele stattfinden sollen.
Das einst heruntergekommene Viertel wurde in den vergangenen Jahren zu einem angesagten Wohnquartier: Die Immobilienpreise kletterten unaufhöhrlich nach oben, immer mehr wohlhabende Londoner sind in den einst verrufenen Osten gezogen. Soziale Unruhen hatten die neuen Bewohner von Woolwich wohl nicht erwartet, als sie ihr Geld in renovierte Wohnungen steckten.
Aber was bedeutet das schon in diesen Tagen in London, wo vieles Realität wird, was vor kurzem noch undenkbar war.
Drei Nächte dauern die riots schon an, und ein Ende ist nicht in Sicht: Immer weiter fressen sich die Unruhen durch die britische Hauptstadt. Längst ist der Funke aus dem neuralgischen Problemviertel Tottenham in die übrigen Bezirke übergesprungen. Längst brandschatzt der entfesselte Mob auch in Städten wie Leeds, Bristol und Birmingham.
London setzt offenbar auch im Negativen Trends und Maßstäbe. Polizei und Politik sind überrascht und überfordert, wie schnell sich die Krawalle ausbreiten und wie massiv sie sind. Was ist nur los mit der Kapitale an der Themse, die Bürgermeister Boris Johnson noch am Wochenende vollmundig als eine der "sichersten Städte" des Planeten bezeichnet hatte?
Anarchistisch-gewalttätige Stadtrundfahrt
Klar ist bislang, dass vieles unklar ist. Zum Beispiel die Anzahl der mutmaßlichen Täter: Mal tauchen 50 Randalierer in der zentralen Oxford Street auf, mal knacken 100 Jugendliche in New Cross Gate einen Elektromarkt und räumen ihn aus, mal liefern sich 150 zumeist vermummte Gestalten in Clapham eine Straßenschlacht mit der Polizei. Teilweise handelt es sich wohl um junge Aufrührer, die von Viertel zu Viertel ziehen auf einer anarchistisch-gewalttätigen Stadtrundfahrt.
Nicht alle auf der Straße gehören zum Mob. Viele Passanten gaffen und recken ihre Handys um möglichst viel von dem Spektakel filmen zu können - für die Randalierer ein zusätzlicher Kick, für die Sicherheitskräfte ein nervtötendes Ärgernis.
Immerhin eine Zahl liefert die Polizei: Bis zum Dienstagmorgen haben die Sicherheitskräfte mehr als 330 Personen in London und Birmingham festgenommen. Nur wie viele da draußen noch marodieren, das kann bislang niemand sagen.
Verblüffend ist auch, wer da Schaufenster einschlägt, Modeläden leerräumt und Autos abfackelt. In England gab es immer wieder Unruhen, 2001 in Oldham etwa, als weiße und pakistanischstämmige Briten aufeinander losgingen oder bei den Broadwater Farm Riots 1985, als sich Schwarze blutige Kämpfe mit der Obrigkeit lieferten. Doch diesmal gibt es keine einzelne Ethnie, Religions- oder Volksgruppe, die ganze Häuserblocks verheert.
Der englische Mob 2011 ist heterogen: Organisierte Banden sind ebenso mit dabei wie Gelegenheitskriminelle, die ihr Diebesgut ein paar Blocks weiter verkaufen wollen oder Jugendliche, die sich Cola-Dosen klauen und sie anschließend halbausgetrunken auf Polizisten schmeißen. Es mischen blonde Männer und Schwarze mit Rastafrisur mit, Frauen gehen ebenso auf Raubzüge wie Gruppen von Kindern - die Polizei gabelte sogar einen Elfjährigen auf, der gestohlen haben soll.
Ausschreitungen in England:"Die Grenze ist überschritten"
London wird zur Zone der Gewalt und zum Selbstbedienungsladen der Randalierer: Was im Nordbezirk Tottenham begann, verbreitete sich in der dritten Nacht über die ganze britische Hauptstadt und andere englische Großstädte. Die eskalierende Gewalt in Bildern.
"Das ist der Aufstand der Arbeiterklasse", brüstet sich vor Reportern ein 28-Jähriger, der beim Krawall im Viertel Croyden mitmischt und sich selbst als Anarchist bezeichnet, sich aber offenbar für eine Art Robin Hood hält. "Wir verteilen den Wohlstand um."
In der zusammengereimten Kraftmeierei steckt tatsächlich ein Stück der Erklärung, warum die Krawalle so massiv ausfallen: "Vieles davon geschieht aus Opportunismus", sagt der Kriminologe John Pitts zum Guardian. Aber im Zentrum müsse eine "soziale Frage" stehen, "nach Jugendlichen, die nichts zu verlieren haben". Der Professor von der Universität Bedfordshire glaubt, dass die meisten Randalierer gesellschaftliche Perspektivlosigkeit eint: Niedrige Einkommen, Arbeitslosigkeit, geringe oder keine Aussichten auf eine seriöse Zukunft.
"Es geht hier nicht in erster Linie um Rasse, Religion oder Klasse", sagt der Sozialwissenschaftler Mike Hardy, Leiter des Instituts für kommunale Integrationsstudien zu Reuters. "Es geht schlicht und einfach um all jene, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen."
Längst ist der ungeklärte Tod des Tottenhammer Mark Duggan, der den Flächenbrand auslöste, in den Hintergrund getreten. Es ist kein Aufruhr für einen Toten. Es ist ein Aufruhr der Abgehängten.
Immer drastischer sind die Szenen, die sich in den Straßen Londons abspielen, immer wagemutiger treten die Randalierer auf, was Pitts auf die "adrenalingeführte Euphorie" zurückführt. In Hackney etwa tritt der Mob furchtlos den Einsatzkräften gegenüber: Ein blasser Jugendlicher traktiert mit einer Holzplanke einen Streifenwagen, unerschrocken filmt ein afrikanischstämmiger Glatzkopf mit seinem Handy einen Polizisten mit Helm und Schild eine Armlänge vor ihm. Etwas weiter trägt ein Vermummter ein Schaukelpferd weg, dessen Kufen vom Feuer angesengt sind, ein anderer mit goldenem Adidas-Aufdruck auf seinem Sweatshirt schleudert den Polizisten eine Weinflasche entgegen, andere werfen Molotowcocktails. In Whitechapel versuchen Männer sogar, in eine islamische Bank einzubrechen.
Inzwischen gibt es den ersten Toten: Ein 26-Jähriger starb im Krankenhaus, teilte Scotland Yard mit. Der Mann war am Vorabend mit mehreren Schusswunden in einem Auto im Bezirk Croydon gefunden worden. Nach Angaben der Polizei waren zu dem Zeitpunkt zwei weitere Personen anwesend. Sie wurden verhaftet, weil sie Diebesgut bei sich trugen.
Im Internet kursieren inzwischen Videos von Überfällen am hellichten Tag: Eine Horde Männer steht um einen blutenden asiatischstämmigen Jugendlichen und räumt seinen Rucksack aus. Ein anderes Foto zeigt, wie sich ein junger Mann bis auf die Unterhose auszieht - vor ihm steht ein Hüne, der ihm die Kleidung raubt. Die Taten sollen sich in Süd-London und in Birmingham zugetragen haben, schreibt die Daily Mail.
Die Randalierer und Plünderer halten sich zwar nicht an die gängigen gesellschaftlichen Normen, wohl aber legitimieren sie Wissenschaftler Pitts zufolge manche Taten nach einer für sie stimmigen Logik: Die Habenichtse brechen bei Tesco, H&M und Sony ein - nach dem Motto, die Konzerne hätten viel Geld. Das hindert den Mob allerdings nicht daran, kleine Läden auszurauben und zu zerstören.
Für den Soziologen Paul Bagguley von der Universität Leeds wurzelt die Gewaltorgie in einer "biographical availability", einer "biografischen Verfügbarkeit": Ohne Job würden die Leute häufiger auf der Straßen herumlungern, sagt Bagguley, und außerdem gebe es einfach viel mehr attraktive tragbare Konsumgüter als jemals zuvor - eine mächtige Motivation für eine Generation, die von Konsum geprägt und von "Werbung bombardiert" wird, wie es Pitts beschreibt.
Die weitere Tendenz: abwärts.
Die drastische Sparpolitik der Regierung von Premierminister David Cameron verschärft die Lage in den sozialen Brennpunkten zusätzlich: Bis 2015 sollen die Ausgaben um 91 Milliarden Euro gekürzt werden - vor allem im Sozialbereich: Kindergeld, Betreuungsgeld, Wohnzuschüsse, Steuererleichterungen für Familien werden zusammengestrichen.
Die Lage war schon vor den Kürzungen mau: Die Löhne stagnieren infolge der Rezession und der Inflation. Der Lebensstandard im Vereinten Königreich ist um fast fünf Prozent gesunken, hat das Centre for Economics and Business Research herausgefunden. Die weitere Tendenz: abwärts.
Bemerkbar macht sich diese Entwicklung als erstes bei den prekären Bevölkerungsschichten: Angst treibt viele Arme, Arbeitslose, Rentner, Alleinerziehende und andere Empfänger der staatlicher Leistungen um. Seit Samstag verwandelt sich diese Angst bei vielen in Wut.
Nun sind die brennenden Häuser überall zu sehen, im Fernsehen, im Internet. Der Furor in Londons Straßen dominiert die Medien wie die Talfahrt an den Börsen. Einigen, die für das Chaos mitverantwortlich sind, zeigen offene Genugtuung.
Da ist der junge Schwarze, den ein Reporter des britischen Senders ITV fragt, ob der Krawall der richtige Weg sei, um Unzufriedenheit auszudrücken.
"Ja", antwortet er. "Sie würden nicht mit mir reden, wenn wir nicht randalieren würden, oder?"
Der Journalist weiß darauf keine Antwort, deshalb setzt der junge Mann nach: Vor zwei Monaten seien sie zu Scotland Yard marschiert, mehr als 2000 Schwarze, friedlich und still. "Und wissen Sie was?", fragt der junge Mann und gibt selbst die Antwort: "Kein Wort darüber in der Presse."