Süddeutsche Zeitung

Unruhen in Iran:"Experten in Iran sind überrascht von den Demonstrationen"

Ginge es allein um die Wirtschaft, hätten die Iraner schon deutlich früher auf die Straßen gehen müssen, sagt Amir Alizadeh von der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer in Teheran. Er sieht ein diffuses Bild.

Interview von Barbara Galaktionow

Als Anlass der Proteste in Iran wird häufig die schlechte wirtschaftliche Lage angeführt. Doch geht es tatsächlich vor allem um Ökonomie? Und wie wirken sich die Proteste auf das alltägliche Leben aus. Darüber sprachen wir mit Amir Alizadeh, dem stellvertretenden Geschäftsführer der Deutsch-Iranischen Industrie- und Handelskammer in Teheran.

SZ: Ist die wirtschaftliche Situation für die einzelnen Menschen in Iran tatsächlich so schlecht?

Amir Alizadeh: Fakt ist, dass in den letzten zehn Jahren die Mittelschicht in Iran kleiner geworden ist. Die Kaufkraft ist gesunken. Das Land hat zwei Jahre hintereinander - 2012 und 2013 - unter einer sogenannten Stagflation gelitten, also sowohl Stagnation als auch Inflation, das kommt eigentlich in der Wirtschaft sehr selten vor. Das größte Problem im Land ist jedoch die Jugendarbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit ist generell relativ hoch, sie beträgt zwölf Prozent. Aber in bestimmten Gruppen - zum Beispiel bei Uni-Absolventen oder Menschen unter 30 Jahren - sind sogar ein Drittel arbeitslos.

Hat sich mit der Aufhebung der Sanktionen nach dem Atomabkommen die Lage nicht verbessert?

Sogar vorher schon ein bisschen. Erste Zeichen für eine Verbesserung gab es 2014, nachdem Hassan Rohani im Jahr zuvor Präsident Irans geworden war. Da gab es ein kleines Wachstum von drei bis vier Prozent. Der Fall des Ölpreises führte dann im Jahr 2015 wieder zu einer kleinen Rezession. Im Januar 2016 wurden die Sanktionen aufgehoben. Und 2016, 2017 hatten sogar zweistellige Wachstumsraten. Zudem sank die Inflation zum ersten Mal nach vielen Jahren von 40 auf unter zehn Prozent - das ist ein Erfolg der Regierung Rohani gewesen. Aber die positiven wirtschaftlichen Entwicklungen sind für viele Menschen nicht spürbar.

Warum nicht?

Das Wirtschaftswachstum hatten wir vor allem der gestiegenen Ölförderung zu verdanken. Es lag bei zwölf Prozent. Aber die Industrie ist nur drei bis 3,5 Prozent gewachsen.

Die Lage hat sich für die Menschen also nicht verschlechtert, aber es gab nach dem Atomabkommen enorme Hoffnungen - und die haben sich nicht erfüllt?

Es gibt sicher Enttäuschung, vor allem unter jungen Iranern. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die protestieren, zu einem großen Teil jünger als 30 Jahre sind. Doch Wirtschafts- und Politikexperten in Iran sind generell überrascht von den Demonstrationen. Denn wenn es nur wirtschaftliche Motive wären, die die Proteste antreiben, hätten die Menschen eher vor fünf, sechs Jahren demonstrieren müssen, da war es weitaus schlimmer. Das Land litt unter einer hohen Inflation, steckte in einer Rezession, hatte ein Minus-Wirtschaftswachstum. Wir hatten Wechselkurse, die sich im Stundentakt geändert haben. Daher kann es nicht allein um wirtschaftliche Probleme gehen.

Es sind also nicht nur wirtschaftlich Abgehängte, die es jetzt auf die Straßen treibt?

Meiner Meinung nach sind Rezession und Arbeitslosigkeit die ersten, die auslösenden Faktoren gewesen. Doch die vielen, zum Teil auch kleineren Proteste in verschiedenen Städten in den letzten Tagen lassen sich nicht so genau analysieren. Die Motive sind sehr unterschiedlich. Sehr oft wird gefordert, dass das Land mehr an sich selber denken müsse. Die Wirtschaft Irans habe Vorrang gegenüber Zahlungen an andere Staaten oder Gruppierungen im Ausland. Viele beschweren sich, dass sie die Nase voll hätten von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Konkret geht es also um wirtschaftliche Reformen und den Kampf gegen Korruption. Aber es ist schwer, bei diesen Protesten zu kategorisieren: Das sind jetzt diese und jene Gruppen und das sind deren Forderungen.

Bei den letzten großen Protesten im Jahr 2009 gab es vor allem politische Forderungen nach einer Öffnung der Gesellschaft und des politischen Systems. So etwas wird jetzt weniger geäußert?

Man muss in solchen Situationen darauf achten, dass man auf Basis von Fakten spricht. Es gibt viele Spekulationen. Die politischen Lager beschuldigen sich gegenseitig. Was und wann und wo dieser Funke für die Proteste war, kann man nicht so genau sagen.

Wie erleben Sie selber die Proteste im Vergleich? War es 2009 überschaubarer?

2009 waren die Motive erkennbar politisch. Die Proteste fanden vor allem in den großen Städten statt. Jetzt sind es mehr die kleineren Städte und die Demonstrationen sind sehr viel weiter im Land verbreitet. Hier in Teheran bekommt man die Proteste kaum mit. Es gibt ein, zwei Straßen, wo ab und zu demonstriert wird, aber ich selber habe dort, wo ich arbeite und wohne, noch nichts gesehen, weder Demonstranten noch Sicherheitskräfte. Im Alltagsleben bekommen wir die Proteste in der Hauptstadt nur dadurch mit, dass das Internet ein bisschen langsamer geworden ist und dass bestimmte Messenger-Apps blockiert sind.

Wie geht es nun weiter? Wird sich die wirtschaftliche Lage nach Aufhebung der Sanktionen immer mehr verbessern?

Auch nach Aufhebung der Sanktionen gibt es immer noch Hindernisse, vor allem in Bezug auf die US-Politik. Die Unsicherheit, die durch US-Präsident Trump für europäische Unternehmen und europäische Banken entstand, spielt eine sehr große Rolle dafür, warum sich die Wirtschaft nicht so positiv entwickelt hat, wie man sich das erhofft hatte. In Iran fehlt es an Geld. Weder die Unternehmen noch die Banken, der Privatsektor, haben das nötige Geld, um Projekte zu finanzieren. Und internationale Banken finanzieren das nicht aus Angst vor US-Strafen oder wegen des Drucks aus den USA.

Müsste Irans Regierung etwas anders machen?

Ja, ganz bestimmt. Sie müsste mehr Transparenz schaffen und mehr Wettbewerbsfreiheit, sie müsste die Strukturen der lokalen Wirtschaft verbessern und die Korruption bekämpfen. Aber Präsident Rohani alleine kann das natürlich nicht lösen. Alle Ebenen der politischen Macht in Iran müssen zu Reformen beitragen.

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