Unruhen in Großbritannien:Schimpf gegen Schande

In Großbritannien eskaliert die Gewalt - Ursachen sind soziale Ausgrenzung und die Sparpolitik der Regierung. Darin scheinen sich alle einig zu sein. Außer jene, die ganz genau wissen wollen, dass ein paar verrückte Kriminelle dafür verantwortlich sind. Warum kracht es im Königreich? Der Kampf um die Deutungshoheit ist entbrannt.

Matthias Kolb

Es ist ein kurzer Auftritt des Premierministers. David Cameron steht am Dienstag vor der Tür seines Amtssitzes in Downing Street 10 und versucht, den Eindruck zu vermitteln, seine Regierung habe alles unter Kontrolle. "Wir werden alles Notwendige tun, um die Ordnung in den Straßen wiederherzustellen", sagt der 44-Jährige.

Police officers stand near a barricade of burning and vandalised cars on a street in Hackney

Wer hat Schuld am Aufruhr? Die Randalierer oder die Politik?

(Foto: REUTERS)

Doch es geht Cameron nicht nur darum, die Handlungsfähigkeit der eilends aus dem Urlaub zurückgekehrten Regierung zu behaupten. Er positioniert sich in der entscheidenden Debatte, die die Ausschreitungen in London begleitet: Sind die Krawalle die Tat einzelner Krimineller oder die Folge sozialer Ausgrenzung und verfehlter Politik?

Die Meinung von David Cameron ist eindeutig. Die Ausschreitungen bezeichnet er als "widerwärtig" und spricht von "purer Kriminalität". Den jungen Randalierern droht er mit der Härte des Gesetzes: "Wenn ihr alt genug seid, um diese Verbrechen zu begehen, dann seid ihr auch alt genug für eine Strafe."

Auf der anderen Seite stehen Menschen wie der Labour-Abgeordnete Chris Williamson. Er macht das Sparpaket der konservativ-liberalen Koalition, das Kürzungen von 91 Milliarden Euro bis 2015 vorsieht, für die riots verantwortlich. Über Twitter fragt er: "Warum übernehmen die Tories nie die Verantwortung für die Folgen ihrer desaströsen Politik?"

Mit den desillusionierten Jugendlichen, die keinen Respekt vor den Behörden haben, müssen sich tagtäglich die Polizisten herumschlagen. Für die Beamten, deren Strategie von Experten und Medien kritisiert worden war, findet Premier Cameron nur lobende Worte: "Wie immer waren die Beamten unglaublich tapfer, als sie sich den Rowdys in unseren Straßen entgegenstellten." Er kündigte erst an, die Zahl der Polizisten auf 16.000 zu erhöhen, und will nun mit Wasserwerfern gegen die Randalierer vorgehen.

Weniger diplomatisch tritt Londons Ex-Bürgermeister Ken Livingstone auf, der im Mai 2012 wieder antreten will: Die Regierung trage wegen ihrer Sparpolitik eine Mitschuld an den Ausschreitungen. In der BBC sagt der "rote Ken", die Zuwendungen für den Stadtteil Tottenham, in dem sich die Gewaltorgie entzündet hatte, seien um neun Prozent gesunken.

Lee Jasper, ein früherer Berater Livingstones, schiebt ebenfalls alles auf die "wirtschaftliche Gewalt" der Regierung und erklärt, kein Mitleid mit den geschädigten Geschäftsleuten zu haben. Hätte die Elekronik-Kette Currys Sozialprojekte finanziert oder Schulen gebaut, so Jaspers Argument, dann wären ihre Filialen nicht geplündert worden.

Auch wenn er die Sparpolitik der Cameron-Regierung stets gegeißelt hat, dürften Labour-Chef Ed Miliband diese vereinfachenden Aussagen seiner Parteifreunde nicht gefallen. Miliband nennt die Plünderungen "schändliches, kriminelles Verhalten", sorgt sich um die Sicherheit der Familien, die sich nicht mehr auf die Straßen trauten, fordert von der Regierung, die Opfer der Randale schnell zu entschädigen.

Miliband erneuerte seine seit Wochen bekannte Forderung, keine Stellen bei der Polizei zu streichen, um die Bürger zu schützen. Dieses Thema birgt nach Einschätzung des Guardian Sprengkraft für David Cameron, denn mittlerweile ist Londons Bürgermeister Boris Johnson, ebenfalls ein Tory, in einem BBC-Interview auf die Labour-Linie eingeschwenkt. Johnson war im Mai 2008 mit großer Mehrheit als Stadtoberhaupt gewählt worden und gilt vielen Beobachtern heute mit seiner energischen und zugleich selbstironischen Art als gefährlichster Rivale Camerons.

Entscheidende Tage für David Cameron

Seinen Parteichef forderte der 47-Jährige auf, die Streichungen bei der Polizei nicht nur in der Millionenmetropole, sondern im ganzen Land zurückzunehmen. Johnson, der von 1999 und 2005 das konservative Wochenmagazin Spectator leitete, hält sich im Gegensatz zu Cameron nicht mit Kritik an der Polizei zurück: Die Beamten hätten zu Beginn härter durchgreifen sollen. Es sei ein "Eigentor" gewesen, die Gewalt so eskalieren zu lassen.

Abgesehen von Boulevardzeitungen wie der Sun wird in den britischen Medien ebenso wie in vielen Blogs differenziert über die Hintergründe der Unruhen diskutiert. Der farbige Pastor Nims Obunge von der Freedom's-Ark-Kirche in Tottenham sprach in einer BBC-Talkshow vielen Briten aus dem Herzen: "Wenn die Presse oder die Politiker nur nach einer einfachen Antwort suchen, machen wir einen großen Fehler. Wir müssen einen ganzen Katalog an Themen durcharbeiten."

Dies geschieht bereits: Es geht um das marode Bildungssystem, die direkten Auswirkungen des Sparpakets auf die einzelnen Viertel (der Guardian präsentiert eine Übersicht in seinem Datablog), die immense Schere zwischen Arm und Reich in der britischen Gesellschaft, die Herausforderungen der Integrationspolitik sowie das wachsende Gefühl der breiten Masse, von der politischen Elite nicht repräsentiert zu werden. Dass Labour von 1997 bis 2010 an der Regierung war und somit für viele gesellschaftliche Entwicklungen mitverantwortlich ist, könnte die Debatte - etwa in der morgigen Sondersitzung des Unterhauses - beruhigen.

Auf David Cameron, der im Juli im News-of-the-World-Abhörskandal wegen seiner allzu engen Kontakte zu Spitzenpersonal des Murdoch-Medienreichs in der Kritik stand, warten aufregende Tage, die wohl wegweisend für seine Zukunft sind. Peter Torry, von 2000 bis 2003 britischer Botschafter in Berlin, sagte im Deutschlandradio Kultur: "Ich glaube, dass die nächsten Tage für Cameron, für den Premierminister, entscheidend sein könnten." Hier könne über seine Regierungszeit entschieden werden, ähnlich wie die Währungskrise 1992 die Amtszeit John Majors bestimmt habe.

Womöglich hatte David Cameron etwas Ähnliches im Hinterkopf, als er gestern seine kurze Rede mit dem Hinweis auf die anstehende Arbeit beendete: "Now if you'll excuse me, there's important work to be done."

Einen Tag später, nach einem weiteren Treffen des Krisenstabs, klingt Cameron noch härter: "Wir müssen den Kampf aufnehmen, und der Kampf ist im Gange." Der Premier macht erneut Kriminelle für die Unruhen verantwortlich - und spricht mit keiner Silbe über die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in manchen Problemvierteln. Ein Satz klingt, als hätte der Konservative viele seiner Bürger bereits aufgegeben: "Es gibt Teile unserer Gesellschaft, die nicht zerbrochen, sondern schlicht und einfach krank sind."

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