Jugendliche Randalierer:Warum Gewalt attraktiv wird

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sueddeutsche.de: Wie lassen sich den "Abgehängten" soziale Normen vermitteln?

Heitmeyer: Normlosigkeit entsteht durch den Ausfall von institutioneller und sozialer Kontrolle: Es mangelt an familiärer Kontrolle, denn die Erwachsenen leben oft auch prekär, die Polizei ist nicht da, die örtlichen Schulen sind überfordert, die Jugendarbeit wird zurückgeschnitten. Dabei sind es solche gesellschaftlichen Institutionen, die dafür sorgen, dass grundlegende Normen gesichert und gestärkt sind: die körperliche und psychische Unversehrtheit, die Gleichwertigkeit von Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Besteht aber eine solche Normlosigkeit, kann sich Gewalt massiv entladen.

sueddeutsche.de: Als Auslöser reicht dann ein Funken?

Heitmeyer: Es ist ein emotional ausbeutbares Signalereignis nötig - in diesem Fall der ungeklärte Tod des Farbigen. Dazu kommen wechselseitige Feindbilder: Die Bewohner solcher Viertel gelten vielen von vornherein als kriminell, die Polizei steht mancherorts im Ruch von institutioneller Diskriminierung. Dazu kommt die Bedeutung der politischen Eliten: In Frankreich spielte seinerzeit der heutige Präsident und damalige Innenminister Nicolas Sarkozy eine schlimme Rolle, als er davon sprach, die Banlieues zu "kärchern", die Jugendlichen mit einem Hochdruckreiniger von der Straße zu spülen. Cameron klingt inzwischen ähnlich. In solchen Momenten bekommen diese Gruppen immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit, sie werden kollektiv sichtbar: Sie wähnen sich plötzlich mit der Obrigkeit auf Augenhöhe, während sie sich im Alltag meist ohnmächtig fühlen. Gewalt wird attraktiv.

sueddeutsche.de: In England randalierten allerdings nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, auch wenn deren Anteil hoch war. Der Mob in London, Birmingham und anderswo war heterogen.

Heitmeyer: Richtig, es ist eben kein spezifisches Problem einer Ethnie oder Religionsgemeinschaft. Desintegration kann man eben nicht an der Hautfarbe festmachen.

sueddeutsche.de: Welche Rückschlüsse lassen sich von den britischen Unruhen auf deutsche Verhältnisse ziehen?

Heitmeyer: Eine solch kritische Masse wie in England ist in Deutschland derzeit nicht wahrscheinlich - ausgeschlossen für die Zukunft ist sie nicht. Bestimmte Gruppen haben auch in Deutschland deutliche Desintegrationserfahrungen und Ängste: Diese Leute sorgen sich, über ihre Arbeit oder ihre sozialen Verhältnisse keine gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, sprich: integriert zu werden. Gleichzeitig gibt es große Unterschiede: Im Vergleich zu Frankreich und dem Vereinigten Königreich steht Deutschland noch gut da. Die Briten erhalten in entsprechenden OECD-Studien die schlechtesten Werte. Dazu kommt, dass sich in deutschen Großstädten nicht in diesem Maße abgeschottete Viertel bilden wie beispielsweise in Paris oder London: Es gibt keine rechtsfreie Räume, von einigen kleinen Ecken abgesehen. Ein weiterer Punkt: Die deutsche Polizei agiert weitaus häufiger deeskalierend als die britische oder französische Polizei. Eine Dynamik wie in London ist also nicht zu erwarten. Allerdings können die beschriebenen Prozesse - Signalereignis, Mobilisierung, partielle Gewalt - auch hier ablaufen.

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