Jugendliche Randalierer:"Sie wähnen sich mit der Obrigkeit auf Augenhöhe"

Feindbilder, Frust, ein zündendes Ereignis: Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer entwirrt die Wurzeln der Unruhen in Großbritannien. Im Gespräch erklärt er, warum die zumeist jugendlichen Randalierer zu Gewalt greifen - und ob in deutschen Problemvierteln eine ähnliche Eskalation möglich wäre.

Oliver Das Gupta

Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, initiierte und leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Der Soziologie-Professor ergründet seit 1982 die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit, ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikten und sozialer Desintegration.

Einen Mittelfinger für den Fotografen: Ein junger Mann verlässt ein Londoner Gericht, vor dem er sich wegen der Unruhen verantworten musste.

Einen Mittelfinger für den Fotografen: Ein junger Mann verlässt ein Londoner Gericht, vor dem er sich wegen der Unruhen verantworten musste.

(Foto: REUTERS)

sueddeutsche.de: Herr Heitmeyer, tagelang wütete ein Mob durch englische Städte. Wie konnte ein lokales Ereignis, der dubiose Tod eines mutmaßlich kriminellen Schwarzen aus dem Problemviertel Tottenham, einen solchen Sturm auslösen?

Wilhelm Heitmeyer: Man muss unterscheiden: Welches singuläre Ereignis sorgt für die Eskalation? Wie verlaufen Mobilisierung und Übersprungsprozesse auf andere Städte? Wie ist der sozio-ökonomische Kontext? Zu den Unruhen gibt es eine lange Vorgeschichte.

sueddeutsche.de: Bleiben wir bei den sozioökonomischen Hintergründen: Welche Faktoren spielen im Falle Englands eine Rolle?

Heitmeyer: In Großbritannien besteht nach wie vor eine knallharte Klassengesellschaft, in der die Herrschenden und Wohlhabenden diejenigen, die in den neuralgischen Problemvierteln leben, oft verachten. Die Integrationschancen für junge Menschen mit geringen Qualifikationen sind außerordentlich begrenzt. Diese Desintegration wird zum Teil gelöst mit einer Binnenintegration: Solche jungen Menschen erhalten in ihren Freundeskreisen und Banden den Respekt, den sie in der Gesellschaft nicht erreichen können. Wenn ich als Person nicht anerkannt werde, erkenne ich auch keine anderen sozialen Normen an. Viele glauben, dass sie nichts zu verlieren hätten. Vor diesem Hintergrund gibt es eine latente Konfliktstimmung. Dazu kommt, dass in englischen Städten oft ganze Viertel abgehängt sind. Dort herrschen Armut und Elend. Chancen, diesen Zuständen zu entkommen, bietet die Gesellschaft kaum. Dort entwickeln sich rechtsfreie Räume. Dann herrscht nicht das zivile Recht, sondern das Recht des Stärkeren. Eine hohe Gewaltlatenz ist immer vorhanden, sie kann jederzeit ausbrechen - so wie das am vergangenen Wochenende der Fall war.

sueddeutsche.de: Der britische Premier Cameron will den Aufruhr mit harten Strafen, Wasserwerfern und möglicherweise sogar dem Militär eindämmen. Halten Sie diese Reaktion für richtig?

Heitmeyer: Um die akute Situation unter Kontrolle zu bringen, war der verstärkte Einsatz von Sicherheitskräften nachvollziehbar. Man muss die Menschen schützen. Aber Wasserwerfer und Soldaten löschen diese gesellschaftlichen Brandherde sicherlich nicht.

sueddeutsche.de: In London sicherten 16.000 Polizisten die nächtlichen Straßen. Ist eine Stadt voller Polizei die Lösung?

Heitmeyer: Auf Dauer ist das nicht durchzuhalten, dieses Repressionsniveau bekommt keiner Gesellschaft. Mittel- und langfristig würde es nur helfen, das Übel an der Wurzel zu packen: Das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen und gleichzeitig die soziale Integration zu fördern. Die Jugendarbeit zusammenzustreichen ist auf jeden Fall kontraproduktiv.

Warum Gewalt attraktiv wird

sueddeutsche.de: Wie lassen sich den "Abgehängten" soziale Normen vermitteln?

Heitmeyer: Normlosigkeit entsteht durch den Ausfall von institutioneller und sozialer Kontrolle: Es mangelt an familiärer Kontrolle, denn die Erwachsenen leben oft auch prekär, die Polizei ist nicht da, die örtlichen Schulen sind überfordert, die Jugendarbeit wird zurückgeschnitten. Dabei sind es solche gesellschaftlichen Institutionen, die dafür sorgen, dass grundlegende Normen gesichert und gestärkt sind: die körperliche und psychische Unversehrtheit, die Gleichwertigkeit von Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Besteht aber eine solche Normlosigkeit, kann sich Gewalt massiv entladen.

sueddeutsche.de: Als Auslöser reicht dann ein Funken?

Heitmeyer: Es ist ein emotional ausbeutbares Signalereignis nötig - in diesem Fall der ungeklärte Tod des Farbigen. Dazu kommen wechselseitige Feindbilder: Die Bewohner solcher Viertel gelten vielen von vornherein als kriminell, die Polizei steht mancherorts im Ruch von institutioneller Diskriminierung. Dazu kommt die Bedeutung der politischen Eliten: In Frankreich spielte seinerzeit der heutige Präsident und damalige Innenminister Nicolas Sarkozy eine schlimme Rolle, als er davon sprach, die Banlieues zu "kärchern", die Jugendlichen mit einem Hochdruckreiniger von der Straße zu spülen. Cameron klingt inzwischen ähnlich. In solchen Momenten bekommen diese Gruppen immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit, sie werden kollektiv sichtbar: Sie wähnen sich plötzlich mit der Obrigkeit auf Augenhöhe, während sie sich im Alltag meist ohnmächtig fühlen. Gewalt wird attraktiv.

sueddeutsche.de: In England randalierten allerdings nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, auch wenn deren Anteil hoch war. Der Mob in London, Birmingham und anderswo war heterogen.

Heitmeyer: Richtig, es ist eben kein spezifisches Problem einer Ethnie oder Religionsgemeinschaft. Desintegration kann man eben nicht an der Hautfarbe festmachen.

sueddeutsche.de: Welche Rückschlüsse lassen sich von den britischen Unruhen auf deutsche Verhältnisse ziehen?

Heitmeyer: Eine solch kritische Masse wie in England ist in Deutschland derzeit nicht wahrscheinlich - ausgeschlossen für die Zukunft ist sie nicht. Bestimmte Gruppen haben auch in Deutschland deutliche Desintegrationserfahrungen und Ängste: Diese Leute sorgen sich, über ihre Arbeit oder ihre sozialen Verhältnisse keine gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, sprich: integriert zu werden. Gleichzeitig gibt es große Unterschiede: Im Vergleich zu Frankreich und dem Vereinigten Königreich steht Deutschland noch gut da. Die Briten erhalten in entsprechenden OECD-Studien die schlechtesten Werte. Dazu kommt, dass sich in deutschen Großstädten nicht in diesem Maße abgeschottete Viertel bilden wie beispielsweise in Paris oder London: Es gibt keine rechtsfreie Räume, von einigen kleinen Ecken abgesehen. Ein weiterer Punkt: Die deutsche Polizei agiert weitaus häufiger deeskalierend als die britische oder französische Polizei. Eine Dynamik wie in London ist also nicht zu erwarten. Allerdings können die beschriebenen Prozesse - Signalereignis, Mobilisierung, partielle Gewalt - auch hier ablaufen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: