Süddeutsche Zeitung

Union und SPD vor Sondierungen:Die alten Rituale sind gefährlich geworden

Maximalforderungen stellen und andere Ideen als Blödsinn diffamieren: In Union und SPD tun vor den Sondierungen viele so, als ginge das immer so weiter. Doch wer derart handelt, hat den Wählerwillen nicht verstanden.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Ralf Stegner, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, ist ein Meister der besonderen Dialektik. Das hat der Sozialdemokrat aus Kiel auch am Mittwochmorgen wieder bewiesen. Im Deutschlandfunk erklärte er mit gewohnt entschlossener Stimme, alle, auch die Union, müssten endlich verstehen, was die Wähler am 24. September der großen Koalition mitgeteilt hätten: Dass es ein "Weiter so!" nicht mehr geben dürfe.

Direkt im Anschluss betonte Stegner mindestens genauso entschlossen, Maßstab für die Verhandlungen müsse das Wahlprogramm der SPD sein. Man kann das so machen; Stegner kann das sowieso. Aber dass das Lernen und das Nicht-lernen-Wollen so nahe beieinanderliegen könnten, hätte man selbst bei ihm nicht für möglich gehalten.

Julia Klöckner ist auch stellvertretende Vorsitzende ihrer Partei. Und die Christdemokratin aus Rheinland-Pfalz steht dem Kollegen Stegner in nichts nach, wenn es darum geht, dem möglichen Koalitionspartner schon zu Beginn der Gespräche vorzuschreiben, wie diese zu laufen haben. Die SPD dürfe nicht zu viel fordern, die SPD dürfe keine schrägen Ideen haben, die SPD müsse sich dieses und jenes abschminken und solle nicht mit Tolerierung oder anderen Formen der Kooperation kommen. Denn: "Wir können nicht die Hand reichen für ein bisschen Absprache, für ein bisschen Tolerierung, für ganz großes Rosinenpicken der SPD, die sich nicht richtig traut", so Klöckner. Ganz so, als könne sie Schiedsrichterin sein bei dem Versuch, in Deutschland doch noch eine stabile Regierung zu bringen.

Politiker, die glauben, man könne tatsächlich so weitermachen wie bisher

Bald drei Monate nach dem Wahltag und drei Wochen nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen sind derlei Auftritte nicht mehr Fehltritte. Sie zeigen, dass da viele das Jahr und seine Wahlergebnisse immer noch nicht verstanden haben. Stegner und Klöckner stehen dabei nicht alleine da, sie sind nur Beispiele für Politiker, die immer noch glauben, man könne tatsächlich so weitermachen wie bisher. Die daran festhalten, dass Verhandlungen zwischen Parteien wie Tarifverhandlungen gehandhabt werden könnten.

Es sind aber exakt diese Rituale, die das Gros des Publikums nicht mehr verstehen wollen. Hier nämlich geht es nicht um eine kluge und kontroverse Suche nach dem richtigen Weg. Es geht um Macht und Rechthaberei; es geht um innerparteiliche Positionskämpfe und den Glauben, man sei ein besonders kraftvoller Politiker, wenn man dem politischen Kontrahenten erklärt, wie er die Welt zu verstehen und zu akzeptieren habe.

Das ist das größte unter den Problemen, die das politische Gefüge 2017 nicht nur in Deutschland dramatisch verändert haben. Immer mehr Menschen fühlen sich von dieser Art von Politik nicht mehr vertreten. Schaukämpfe auf großer Bühne, die vor allem der Profilierung dienen - damit können viele, auch viele ehemalige SPD- und Unionsanhänger nichts mehr anfangen. Sie empfinden das als abgewandt, eigensinnig, ignorant. Und deshalb sind sie dabei, von dem, was in Berlin passiert, immer weniger Notiz zu nehmen. Sie schaffen sich ihre eigenen Welten; sie bewegen sich in ihren Kreisen; und sie stärken jene Parteien, die mit einer zunehmend aggressiven Anti-Haltung Politik machen.

Dabei sind manche ideologisch rechtsradikal, keine Frage. Aber nicht wenige treibt viel eher das Gefühl an, dass sie abgehängt werden. Ökonomisch, kulturell, in der Distanz zur und dem Desinteresse in der Hauptstadt. Wenn also eine neue große Koalition einen Sinn haben soll, eine eigene Kraft entfalten möchte, dann geht das nicht über eine Bürgerversicherung oder Grenzzäune. Dann müssten die Spitzen von Union und SPD bewusst die alten Rituale und Inhalte durch neue Ideen ersetzen. Dann müssten sie die Kraft haben, offen und ehrlich über die Unsicherheiten in der Gesellschaft zu reden; sie müssten die Kraft finden, daraus eine gemeinsame Aufgabe zu entwickeln.

Konkret könnte das heißen, den Begriff der Sicherheit nicht nur auf Polizei, Geheimdienste, Flüchtlingsaufnahme-Sorgen zu begrenzen. Es könnte bedeuten, sich auch auf das Mega-Thema zu stürzen: Dass nämlich ein großer Teil der Bevölkerung die Digitalisierung mit neuen Kommunikationsmitteln im ersten Moment toll findet, aber im zweiten Moment dramatisch um die eigenen Jobs und damit die eigene Zukunft fürchtet.

Es könnte heißen, dass sich Union und SPD gemeinsam der Frage annehmen, warum es immer mehr Landstriche gibt, in denen die Ärzte, die Bushaltestellen, die Geburtstationen rar werden - sofern sie überhaupt noch da sind. Und es könnte bedeuten, die Frage der Bildung, also der Kitas, der Schulen, der Unis, der Berufsbildung ganz neu ins Zentrum zu stellen. Das ist, kurz gesagt, nichts anderes als eine neue soziale Frage. Der Zustand vieler Schulen, die Ausstattung vieler Berufsschulen, die Technik in öffentlichen Universitäten sind für ein Land wie Deutschland beschämend.

Früher waren Grundschulen der Ort, wo alle Familien einer Gesellschaft zusammenkamen. Heute beginnt spätestens hier eine soziale Abgrenzung, wie es sie so in der Bundesrepublik noch nie gegeben hat. Man muss nicht in Berlin leben, um zu erkennen, wie viele Eltern mittlerweile aus Not, nicht aus Arroganz den öffentlichen Schulen entfliehen.

Eine Katastrophe, wie sich Politiker bei Jamaika inszeniert haben

All das zeigt - es wäre nicht schwer, für eine neue große Koalition neue große, unverzichtbare Aufgaben zu entwerfen. Voraussetzung ist nur, die vertraute, ja heimelige Programmatik der jeweils eigenen Partei nicht länger zur Abgrenzung, sondern zum Brückenbau zu verwenden.

Und das hieße, die wesentlichen Fehler aus den Jamaika-Sondierungen nicht zu wiederholen. Es ist eine Katastrophe gewesen, wie sich Politiker dabei inszeniert haben. Es war unverantwortlich, die Gespräche mit einer Sammlung an roten Linien zu beginnen. Es war strategisch miserabel, ihnen nicht frühzeitig eine verbindende Idee zu verpassen. Und es war peinlich, wie manche Teilnehmer durch Tweets, Fotos, Facebook-Einträge in Echtzeit versuchten, sich selbst als besonders tolle Damen und Herren anzupreisen. Das passt zu einer Ego-Gesellschaft; es passt nicht zu einer politischen Verantwortung, die in einem Jahr der AfD-Erfolge verlangt, als Regierung für die ganze Gesellschaft Besserungen zu suchen. Wenn Union und SPD das nicht verstehen, wird 2017 nicht eine einmalige Warnung bleiben, sondern der Anfang einer noch problematischeren Entwicklung werden.

Dass die SPD immerhin an einer Stelle neu denken kann, beweist sie gerade, wenn auch unter Schmerzen. Sie hat sich nämlich durchgerungen, die Analyse ihrer Wahlkampagne an externe Experten zu übergeben. Das ist ein Risiko, es könnte bis hinauf zum Parteichef mancher und manchem wehtun. Aber es zeigt, dass da vielleicht zum ersten Mal überhaupt eine Partei den Mut aufbringt, sich wirklich mit ihren Fehlern auseinanderzusetzen. Man stelle sich nur kurz vor, die CDU Angela Merkels würde das Gleiche wagen. Womöglich wäre das der bitter nötige neue Anfang.

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