Süddeutsche Zeitung

Nordrhein-Westfalen:Spürbare Entlastungen für Beschäftigte der Unikliniken

Tarifparteien einigen sich nach wochenlangen Streiks und Verhandlungen an sechs Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen: Wer mehr arbeiten muss, weil auf der Station das Personal fehlt, erhält künftig freie Tage als Ausgleich.

Von Rainer Stadler, München

Nach 77 Tagen Streik und 20 Verhandlungstagen hat Katharina Wesenick das dringende Bedürfnis, "erst mal abzukühlen". Als Fachbereichsleiterin Gesundheit bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Nordrhein-Westfalen stand sie seit Beginn an der Front eines Arbeitskampfs, der das Land über Monate beschäftigte. Er betraf die Universitätskliniken Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster und kostete beide Seiten, aber auch die Patienten Kraft und Nerven: Tausende Operationen und wichtige Behandlungen mussten verschoben werden.

Umso zufriedener ist Wesenick mit dem Ergebnis: Für die sechs Kliniken des einwohnerstärksten Bundeslands handelte Verdi einen sogenannten Entlastungstarifvertrag aus. Er legt für Pflegekräfte und andere Beschäftigte im Krankenhaus fest, wie viele Patientinnen und Patienten pro Station maximal behandelt und betreut werden sollen. Wird diese Zahl überschritten "oder kommt es zu anderweitig belastenden Situationen", erhalten die Beschäftigten Entlastungspunkte. Sieben Punkte bedeuten einen freien Tag.

Gelten soll der Tarifvertrag von Anfang 2023 an. Im ersten Jahr ist vorgesehen, dass Beschäftigte neben dem regulären Urlaub bis zu elf zusätzliche freie Tage erhalten, im zweiten Jahr dann 14 und im dritten maximal 18. Personal-Patienten-Schlüssel gibt es schon länger, "aber bisher fehlte uns ein Sanktionsmechanismus, um sie auch durchzusetzen", sagt Verdi-Funktionärin Wesenick. Für die Krankenhäuser bedeutet die Regelung nämlich, dass sie weniger Betten belegen, weniger Patienten aufnehmen, weniger operieren können, wenn das Personal knapp ist.

Auch Auszubildende profitieren von der Entlastung

Laut Wesenick ist das aber der Weg, um insbesondere die chronisch überlasteten Pflegekräfte aus ihrem "Dilemma zwischen Selbstermächtigung und Berufsethos" zu befreien. Oft nehmen Beschäftigte in diesem Bereich untragbare Zustände auf ihren Stationen hin, weil sie sich den Patienten verpflichtet fühlen. Andererseits bleibt im Alltag viel zu wenig Zeit, sich um die kranken Menschen zu kümmern. Viele sehen deshalb nur ein Ausweg: dem Beruf den Rücken zuzukehren. Für die verbliebenen Beschäftigten bedeutet das noch mehr Arbeit. Es wird sich zeigen, ob der fatale Kreislauf damit eine Ende hat.

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann erhofft sich jedenfalls eine nachhaltige Entlastung für die Beschäftigten. Auch die Arbeitgeber zeigen sich zufrieden: "Damit werden die Beschäftigten an den sechs Unikliniken im Land zukünftig deutlich bessere Arbeitsbedingungen vorfinden", sagte deren Verhandlungsführer Edgar Schömig, der das Universitätsklinikum Köln leitet. Dabei sträubten sich die Arbeitgeber zunächst, schon Anfang des Jahres forderten Beschäftigte Verhandlungen.

Die Beschäftigten müssen dem Entwurf für den Tarifvertrag bis 5. August zustimmen. Die Entlastung betrifft nicht nur die meisten Pflegekräfte, sondern auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Radiologie oder den Betriebskitas. Auch Auszubildende, oft nur als billige Arbeitskräfte eingesetzt, profitieren von der Entlastung. Zudem gelten künftig Mindeststandards dafür, wie sie in der Praxis angeleitet werden und wie viele Lehrkräfte sich um sie kümmern.

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