Ungleichheit:"Solidarität war immer das Ergebnis von Kämpfen"

Tag der Arbeit

Demonstrationen wie diese hier zum Tag der Arbeit in Hamburg 2017 brauche es häufiger, sagt Soziologe Oliver Nachtwey.

(Foto: dpa)

Wie kann in Zeiten digitaler Filterblasen das Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen? Für Solidarität müssen die Menschen auf die Straße gehen, sagt Soziologe Oliver Nachtwey.

Interview von Thomas Jordan

Der Soziologe Oliver Nachtwey, 42, machte 2016 mit seinem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" Furore. Darin beschreibt er, dass es für weite Teile der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland sozial nicht mehr aufwärts geht, sondern im Vergleich zur Generation ihrer Eltern wieder bergab. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind fest auf dem Arbeitsmarkt etabliert. Von der Politik wird als Ausgleich in einer "globalisierten, neoliberalen, turbodigitalne Welt", wie es die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles kürzlich formulierte, wieder verstärkt die Idee der Solidarität ins Spiel gebracht.

Aber wie kann das Gefühl von Zusammenghörigkeit in Zeiten digitaler Filterblasen und verstärkter Ungleichheit entstehen? Im Interview fordert der bekannte Soziologie, der seit vergangenem Jahr an der Universität Basel lehrt, mehr globale und lokale Streikbewegungen und erzählt von eigenen überraschenden Solidaritätserlebnissen.

SZ: Herr Professor Nachtwey, wie solidarisch ist die Gesellschaft in Deutschland heute?

Oliver Nachtwey: Sie war schon mal solidarischer. Unter Helmut Kohl - bei dem dann alle froh waren, dass er weg war - mussten die Gutverdiener deutlich mehr zum Sozialen beitragen. Damals lag der Höchststeuersatz bei 53 Prozent, jetzt liegt er bei 43 Prozent. Dazu waren die sozialen Sicherheitssysteme noch solidarischer ausgestaltet. Heute haben wir Hartz IV. Solidarität ist aber darauf ausgerichtet, nicht zweckgebunden zu sein. Solidarität ist wechselseitige Hilfestellung auf der Basis von gemeinsamen Risiken.

Andererseits war die Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen ja ein sehr großer Ausdruck von Solidarität. Dagegen gibt es nun eine lautstarke Gruppe von Menschen, die sagen, wir wollen uns globale Solidarität nicht mehr leisten. Diese Frage ist noch nicht entschieden. Es gibt aber eine viel größere Bereitschaft zur Solidarität, als manche vielleicht vermuten.

Solidarität hat viel damit zu tun, dass man sich gegenseitig hilft, weil man die Probleme des anderen kennt. Heute beziehen viele Menschen ihre Informationen aus digitalen Filterblasen auf Facebook und Twitter. Die Gemeinsamkeiten, so der Eindruck, nehmen ab. Hat Solidarität heute noch etwas mit der Arbeitersolidarität im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu tun?

Wir haben bei der alten Arbeiterbewegung immer die Vorstellung von Männern mit Kettenfett, die die Solidarität mit der Muttermilch aufgesogen hätten. Solidarität kommt aber nicht von selbst. Solidarität war immer ein Ergebnis von Kämpfen. Sie entsteht aus sozialen Konflikten und findet in ihnen statt. Das halte ich für einen wesentlichen Gedanken. Denn die Politik der letzten zwanzig Jahre war sehr stark auf Konsens ausgerichtet und hat versucht, soziale Konflikte unter den Teppich zu kehren. Alleine die Artikulation der Frage, was Solidarität ist und wie wir solidarisch sein wollen, ist ein erster Schritt dahin, dass die Gesellschaft sich wieder über sich selbst verständigt.

Im Moment sehen wir Twitter und Facebook als dunkle Seiten einer Technologie, die Leute wie Trump genutzt haben, um Fremden- und Frauenhass zu verbreiten. Vor sieben Jahren hat die halbe Welt Facebook und Twitter als Medien gesehen, um Demokratie und Solidarität zu verbreiten, nämlich im arabischen Frühling und bei der Occupy-Bewegung. Das heißt, diese Echokammern können auch durchaus durchbrochen werden. Denn diese Filterblasen entstehen ja immer dann, wenn es eine große Ratlosigkeit und eine große Vereinzelung gibt.

Oliver Nachtwey

Der Soziologe Oliver Nachtwey, 42, lehrt seit 2017 an der Universität Basel.

(Foto: privat)

In ihrem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" haben sie dargelegt, dass für viele Menschen das Aufstiegsversprechen durch Leistung nicht mehr greift. Ganz im Gegenteil, für einige geht es sogar wieder rückwärts. Sie schreiben etwa, dass heute zwar beide Ehepartner arbeiten gehen, aber weniger verdienen als zu Zeiten, in denen nur einer arbeiten ging.

Ich benutze dafür gerne das Bild der Rolltreppe. Früher fuhr die Rolltreppe kollektiv nach oben, und jetzt fährt die Rolltreppe zumindest für die Menschen im unteren Drittel der Gesellschaft wieder nach unten. Man steigt aber nicht automatisch ab, sondern die Leute fangen an, gegen die Richtung der Rolltreppe zu laufen. Selbst diejenigen, die objektiv gar nicht abstiegsbedroht sind, bis weit in die Mittelklasse hinein, haben diese Wahrnehmung einer nach unten fahrenden Rolltreppe. Das ist eine Situation, in der dann die Ellenbogen ausgefahren werden.

Was bedeutet diese fehlende Solidarität für die Politik?

Ich befrage für eine Studie gerade mit meinem Team AfD-Wähler, die vorher in irgendeiner Weise politisch aktiv waren in der Zivilgesellschaft. Wir besuchen sie zu Hause und führen längere Interviews. Häufig sind diese Leute enttäuschte Idealisten, die sich von der Gesellschaft verlassen fühlen. Wir treffen da wenig auf die traditionellen Rassisten. Wir treffen auf die Leute, die eine starke Vereinsamung und einen starken Gesellschaftsverlust haben, aber gleichzeitig immer nach etwas suchen, wo sie Bindung finden. Und das finden sie dann leider in so einer Art exklusiven Solidarität. Also eine Solidarität innerhalb einer Gruppe, unter Ausschluss einer Fremdgruppe. Wie zum Beispiel Inländer gegen Ausländer oder Stammarbeiter gegen Leiharbeiter.

Nicht nur AfD-Politiker sprechen nun in letzter Zeit wieder öfter von Solidarität. Auch die neue SPD-Vorsitzende, Andrea Nahles hat auf dem SPD-Parteitag Solidarität ins Zentrum ihrer Rede gestellt. Nahles sagte, "Solidarität ist das, woran es am meisten fehlt in dieser globalisierten, neoliberalen, turbodigitalen Welt." Was halten Sie davon?

Die konkrete Regierungsbilanz der letzten Jahre sieht anders aus. In den letzten zwanzig Jahren, 16 davon war die SPD an der Regierung beteiligt, ist der größte Mindestlohnsektor in Europa entstanden und die Steuern für Reiche wurden gesenkt. Man benutzt Begriffe wie Solidarität, aber es folgt nichts oder sogar das Gegenteil daraus. Das ist etwas, was das Vertrauen in das politische System massiv untergräbt. Und in diese Lücke stößt dann die AfD. Dass solche Leute wie Björn Höcke von "patriotischer Solidarität" sprechen können, ist eine Tragödie, weil die Linke es nicht vermag, eine Form von internationaler Solidarität zu organisieren.

"Streiks sind die Labore der Solidarität"

Was kann der Staat denn tun, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zu fördern?

Der Staat könnte viel tun. Er könnte zum Beispiel den Mindestlohn so erhöhen, dass Geringverdiener nicht aus den Großstädten wegziehen müssen. Dass man dort nicht in einem ständigen Überlebenskampf steht oder verdrängt wird. Und dass man dort anderen Menschen begegnet und genug Zeit hat, sich um seine Familie zu kümmern, um Freundschaften zu pflegen und nicht mehrere Jobs auf einmal zu haben. Er könnte Schluss machen mit Hartz IV und aufhören, Menschen, die keine Arbeit finden, zu demütigen. Vor allem könnte der Staat den Menschen, die Arbeit haben, die Sorge nehmen, in Hartz IV zu kommen. Ich konnte in meinen Studien sehr gut sehen, dass die Lohnquote, also der Anteil am Volkseinkommen, den die Arbeitnehmer erhalten, nach der Einführung der Agenda 2010 richtig eingebrochen ist. Das hat etwas damit zu tun, dass Arbeitnehmer Angst hatten, in Hartz IV zu rutschen und deshalb schlechtere Löhne akzeptiert haben.

Wenn über Solidarität gesprochen wird, geht es derzeit meist um sozialpolitische Fragen. Etwa um kostenlose Universitäts- oder Kita-Plätze oder um die gerechtere Verteilung von Firmengewinnen. Besteht die Gefahr, dass damit ein verengtes, nationales Denken zu Lasten einer globalen Solidarität wieder stärker wird?

Im Moment haben wir in westlichen Gesellschaften mit Akteuren wie dem aufsteigenden Rechtspopulismus zu kämpfen, die öffentlich sehr wirksam gegen die Idee der globalen Solidarität kämpfen. Aber wir haben gerade auch das Jubiläum 50 Jahre' 68. Dort gab es eine Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, die sich global vernetzt hat. In Paris und Berlin waren es Arbeiter und Studenten, die da miteinander gegen den Vietnam-Krieg kommuniziert und protestiert haben. Das war ein Ereignis, mit dem nicht viele gerechnet haben. Es kam out of the blue. Wir sehen das häufig, dass globale Solidaritätsbewegungen aus Verkettungen von Ereignissen entstehen, die wir nicht voraussehen können. Nehmen Sie die Occupy-Bewegung vor ein paar Jahren. Ein paar Anarchisten und Studenten haben in New York eine Betonwüste mit einer kleinen Rasenfläche besetzt - und plötzlich war es ein globales Thema. Die Niederlage der Occupy-Bewegung, und das ist die Tragödie, hatte zur Folge, dass die Fragen von demokratischer Inklusion und Solidarität, die sie aufgeworfen haben, jetzt von rechts besetzt werden können.

Es könnte also schon bald wieder eine weltweite Protestbewegung entstehen?

Ja, genau. Sehen Sie, die US-amerikanische Arbeiterbewegung liegt aus einer Vielzahl von Gründen aktuell am Boden. Aber wie aus dem Nichts gibt es jetzt im mittleren Westen der USA eine wilde Streikbewegung. Sie wird von ein paar Aktivisten von unten geführt - häufig gegen den Willen der Gewerkschaftsführung. Und diese Streikbewegung von unten gewinnt und sie zwingt die konservativen Gouverneure zu Zugeständnissen. Inzwischen sind mehr als drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung der Meinung, dass Lehrer mehr verdienen müssen. Solidarität entsteht manchmal auch erst aus den Konflikten. Ich habe vor einigen Jahren an Kliniken in Deutschland eigene Forschungen gemacht. Ich war sehr skeptisch, ob es dort Arbeitskämpfe geben könnte. Denn die Pflegerinnen haben dort so eine hohe Arbeitsethik, die Gesundheit ihrer Patienten steht so sehr im Mittelpunkt, dass sie nur schwer in der Lage sind, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Aber gerade in diesen Gruppen ist eine ungeheure Solidarität entstanden. Das Ethos hat sich nämlich gedreht. Weil sie gesehen haben, über die Kürzungen im Gesundheitswesen sind wir gar nicht mehr in der Lage, uns um die Menschen zu kümmern. Diese Konflikte haben zu einer großen Solidarisierung geführt.

Streiks sind der Schlüssel zu mehr Solidarität in unserer Gesellschaft?

Wir brauchen global und vor Ort mehr Streikbewegungen. Streiks sind die Labore der Solidarität. Hier wird Solidarität wie in der Petrischale im täglichen Miteinander immer wieder neu erzeugt. Man muss immer wieder Solidarität von anderen Gruppen herstellen. Der Streik ist aber nicht nur wichtig im Ergebnis, sondern auch als Ereignis. Er setzt ungeheure Energien frei, weil man erfährt, wie begeisternd es ist, sich mit anderen Menschen für soziale Gerechtigkeit zu engagieren. Man steht mit Kollegen an einem Streikposten oder muss ein Transparent malen, die man vorher vielleicht nicht als die charmantesten Kollegen empfunden hat. Danach berichten die Leute oft, wie sozial erweiternd sie das fanden. Weil man in diesem Moment den Kollegen, der sonst ein Büro weiter gesessen hat und immer nur genervt hat, plötzlich in einer ganz anderen Rolle als Mensch erlebt hat. Und weil man die Möglichkeit hatte, Empathie zu zeigen. Es gibt da eine Explosion von Solidarität.

Kann eine Gesellschaft ohne Solidarität überhaupt existieren?

Eine Gesellschaft ohne Solidarität ist eine liberale Dystopie, die aus vereinzelten Individuen besteht, die nur auf sich selber achten. Es ist eine Gesellschaft, in der wir alle nur noch Menschen des Marktes sind und wo es eine gewisse Entzivilisierung in der Gesellschaft gibt. Wir sehen das im Moment an dem gestiegenen Rassismus und der offen gezeigten Frauenfeindlichkeit. Wir brauchen Solidarität, denn eine Gesellschaft ohne Solidarität ist eine entzivilisierte Gesellschaft.

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