Süddeutsche Zeitung

Ungleichheit:Gleich ist nicht gleich gerecht

Sind wir nicht irre reich? Nicht alle gleich reich zwar, aber Gleichheit macht sowieso nur träge und faul. Oder?

Von Sebastian Gierke

Es geht uns gut, wir sind alle reich. Wirklich.

Was für ein Satz, im Krisenjahr 2016. Aber er stimmt. Schauen Sie:

Noch vor 300 Jahren gab es kaum jemanden, der so viel besaß wie Sie jetzt. Egal ob Sie diesen Text gerade im 4000-Euro-Chefsessel eines multinationalen Konzerns lesen - oder den Sessel für einen Stundenlohn von zehn Euro sauber machen müssen.

Noch im Jahr 1999 lebten 29 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. 2012 waren es nur noch 13 Prozent. Heute sind es nach Angaben der Weltbank weniger als zehn. Die Ungleichheit zwischen den Ländern dieser Welt ist drastisch zurückgegangen. Die globale Mittelschicht hat sich in den vergangenen 30 Jahren auf fast 3,2 Milliarden verdoppelt.

Auch und gerade in Deutschland leben die Menschen in einer Zeit gewaltigen, unübersehbaren Reichtums. Einerseits.

Andererseits ist auch Deutschland von Gleichheit weit entfernt. Die Diskussion um einzelne Studien und Zahlen ist zäh, doch klar ist: Die Ungleichheit zwischen den Ländern mag gesunken sein, die Ungleichheit innerhalb der Länder, auch in Deutschland, ist dagegen gestiegen. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens.

Doch die Antwort auf die Frage, warum Gleichheit in Deutschland als so hohes Gut gilt, steckt nicht allein in diesen Zahlen. In Umfragen jedenfalls fordern die Deutschen regelmäßig mehrheitlich mehr materielle Gleichheit.

Schnell werden solchen Gedanken kleinbürgerliches Ressentiment, Neid oder sogar Reichenhass unterstellt. Dann wird aus Gleichheit ein links-ideologisches, utopisches Konstrukt, mehr Druckmittel als erstrebenswertes Ziel. Ein wohlfeiles Prinzip, das träge und faul macht, aber ganz bestimmt nicht reich. Wo bleibt das Leistungsprinzip in all der Gleichmacherei?

Mit dieser und anderen Fragen beschäftigen wir uns von heute an eine Woche lang auf SZ.de und in der Süddeutschen Zeitung. Die Debatte um Ungleichheit und Ungerechtigkeit war selten wichtiger als heute, da es so viel gibt, das verteilt werden kann. Was macht das mit uns und unserer Gesellschaft? Es gibt unübersehbar viele Untersuchungen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Beinahe jede denkbare Position kann mit Daten untermauert werden.

Die Welt ist zerbrochen, zersplittert in winzige Teile. Es gilt, das Puzzle so gut es geht wieder zusammenzusetzen. Dem postmodernen Gefühl, das keine Fakten, sondern nur noch Meinungen kennt, etwas entgegenzusetzen.

Ökonomie, Philosophie, Politik, auf diesen Feldern findet die Diskussion statt, oft eher populär als wissenschaftlich. Auf der Liste derer, die sie geführt haben, finden sich die einflussreichsten Denker des Planeten. Von Sokrates und Aristoteles über Cicero und die Philosophen der Aufklärung bis Marx und Hayek. Heute sind es John Rawls, Jürgen Habermas, Amartya Sen oder Angus Deaton, die im Zentrum der Debatte stehen.

Am Ende geht es um Gerechtigkeitstheorie - darum, was Gerechtigkeit eigentlich ist. Um Verteilungsdiskurse und Weltanschauungen.

Wie schwer es ist, in einem so hochkomplexen Feld Antworten zu finden, hat der Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen mit einer ganz simplen Parabel deutlich gemacht:

Drei Kinder streiten um eine Flöte. Jeder hat einen guten Grund, warum ihm das Instrument zusteht: Das erste kann sie aufgrund seiner Fähigkeiten am besten nutzen, das zweite verfügt über kein anderes Spielzeug, und das dritte hat die Flöte hergestellt.

Was ist also gerecht? Das, was nützt? Was solidarisch ist? Oder libertär? Für Sen kann die Frage, wem die Flöte zusteht, nicht allgemein und abstrakt beantwortet werden. Sie lasse sich nur im konkreten Fall durch "diskursive und unparteiliche" Gewichtung klären. Die soziale Ordnung sei vor allem das Ergebnis von Diskursen, die sich verändern und unter ständigem Korrekturvorbehalt stehen. Wo also stehen wir im Moment? Wie unparteilich sind die Verhältnisse im Jahr 2016? Geht es fair zu? Gleich? Oder gerecht? Und ist das überhaupt wichtig?

Werden sie gefragt, verlangen die meisten Menschen fast arglos nach mehr Gleichheit. Viele Politiker und Ökonomen, auch Philosophen sehen das kritisch. Ungleichheit sei doch produktiver, sei Ansporn und Grundlage für kreativen Wettbewerb. Mit unterschiedlichen Talenten und Anstrengungen müssten schließlich unterschiedliche Belohnungen verbunden sein. Die Menschen seien unterschiedlich. Würde man die Ungleichen gleich behandeln, wäre das Ergebnis: Ungleichheit. Außerdem: Wer wolle schon eine Gesellschaft, in der es allen gleich gehe: gleich schlecht.

Einer der einflussreichsten Forscher hierzu, Nobelpreisträger Angus Deaton, argumentiert, Fortschritt gebe es nicht ohne Ungleichheit. Ungleichheit entstehe automatisch, wenn Gesellschaften versuchten, morgen besser zu leben als heute, das Aufgehen der Kluft zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen sei dann unvermeidlich. Auf lange Sicht allerdings verschwänden zumindest gravierende Ungleichheiten wieder. Der Philosoph Harry G. Frankfurt plädiert auch deshalb dafür, nicht die Ungleichheit zu bekämpfen, sondern die Armut.

Wie viel Ungleichheit wird akzeptiert?

Ist also nicht jede Ungleichheit amoralisch? Einfach weil Ungleichheit eine alltägliche Erfahrung und auch immer Ausdruck persönlicher Präferenzen und Lebensführung ist. Und völlige Gleichheit deshalb gar nicht möglich.

Doch wo ist die Grenze, wie viel Ungleichheit akzeptieren die Menschen? Plato sprach einst von einem wünschenswerten Einkommensverhältnis der Reichsten gegenüber den Ärmsten von 4:1. Aktuell gaben US-Amerikaner in einer Studie an, ideal wäre ein Einkommensverhältnis von 7:1. Ein Firmenvorstand dürfte also sieben Mal mehr verdienen als ein einfacher Angestellter. Tatsächlich beträgt das Verhältnis 354:1. Untersuchungen aus Deutschland haben ergeben: Die Höhe der Gehälter, die Dax-Unternehmen ihren Vorständen zahlten und die durchschnittliche Vergütung ihrer Arbeitnehmer unterscheidet sich im Verhältnis 53:1.

Diese gewaltigen Unterschiede unterminieren Wirtschaftswachstum. Der Verweis auf das Leistungsprinzip macht nur Sinn, wenn auch die Chancen, etwas zu leisten, einigermaßen gleich verteilt sind. Jeder muss mit so vielen Ressourcen ausgestattet werden, dass er ein Leben in Würde und Freiheit führen kann. Nicht dass jeder dasselbe hat, ist wichtig, sondern dass jeder genug hat. Es geht um Chancengleichheit.

Gleich ist nicht gleich gerecht.

Sprechen wir über Gerechtigkeit, müssen wir aber auch wieder über Gleichheit sprechen. Weil Gerechtigkeit nur dann möglich ist, wenn es ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit gibt.

Deshalb darf die Forderung nach mehr Gleichheit nicht mit dem lapidaren Hinweis auf die mythische Macht des Marktes abgetan werden. Der Markt allein, das hat die Finanzkrise nur am deutlichsten gezeigt, sorgt nicht für sozialen Ausgleich. Aber es ist Chancengleichheit, die bewirkt, dass die Marktwirtschaft von den Menschen akzeptiert wird.

Arbeit macht nicht reich

Die Vermögensverteilung ist so auch zu einer Frage von Macht geworden. Jeder bekommt, was er sich aufgrund seiner Möglichkeiten sichern kann. Und diese Möglichkeiten hängen entscheidend vom Geld ab. Der Kapitalismus in seiner ungebändigten Form eignet sich nicht als Werkzeug zur Distribution von knappen Ressourcen mit demokratischen Regeln. Die Demokratie beglaubigt vielmehr die kapitalistische Anhäufung von Reichtum moralisch und institutionell.

In diesem System macht Vermögen reich und reicher, Arbeit eher nicht. So hat sich eine neofeudale Oberschicht von Superreichen etabliert, die durch löchrige Steuergesetze nicht daran gehindert wird, ihr Milliardenvermögen quasi abgabenfrei zu vererben. Wir leben in einer Klassengesellschaft. Einer Klassengesellschaft, in der es immer mehr Sache jedes Einzelnen ist, für sein Leben, sein Überleben zu sorgen - obwohl die Ressourcen dafür kaum ausreichen.

Das zu beklagen, diese Missstände anzuprangern, auch wenn man selbst glaubt, genug zu haben, muss nichts mit Neid zu tun haben. Neid wird hier oft zum Kampfbegriff der Besitzenden. Ungerechtigkeit zu verurteilen, ohne sie am eigenen Leib zu erfahren, kann jedoch ganz ohne niedere Motive geschehen. Die Empörung über die Ungerechtigkeit sollte allerdings nicht in der apodiktischen Forderung nach absoluter Gleichheit münden.

Neid entsteht in der Abwesenheit sozialer Gleichheit - und lässt sich von Populisten perfide instrumentalisieren. Viele Menschen können sich nicht emotional unbewegt mit den Erfolgreichen vergleichen. Heute weniger als noch vor 50 Jahren. Mit dem zufrieden zu sein, was man hat, das gilt nicht mehr als elementar oder gar lebensklug. Heute ist Glück relativ. Relativ zum Glück der anderen. Und das eigene Glück macht selten so glücklich, wie das Glück anderer unglücklich macht.

Uns geht es gut? Im Jahr 2016? Schauen Sie sich mal diese Affen an:

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